„Tutto
è burla!“ Unter dieser Devise hatte der Pariser Operndirektor Hugues Gall
zu Sylvester 1999 Verdis heiteres und abgeklärtes Alterswerk gebracht,
um die Absurdität des ausgehenden Jahrhunderts zu feiern (er konnte nicht
wissen, was uns im neuen Jahrhundert ins Haus stehen wird!).
Daß
er die Produktion Dominique PITOISET anvertraut hatte, ließ Böses befürchten
nach der katastrophalen „Don Giovanni“-Inszenierung im Frühjahr vorher.
Die Übertragung in die viktorianische Zeit läßt sich durchaus vertreten
und war eine angenehme Überraschung, zumal das Bühnenbild von Alexandre
BELIAEV sehr gelungen ist. Die ganze Handlung spielt auf der Straße. Eine
lange Ziegelmauer quer über die gesamte Bühne besteht aus vier kontinuierlichen
Teilen, die je nach Bedarf herein geschoben werden. Ein zweistöckiges
Wohnhaus mit der Aufschrift „Royal Windsor Park – Herne’s Great Oak –
Daily visits“ ist zu Beginn links zu sehen, mit drei Bögen im Erdgeschoß.
In einem steht ein viktorianisches „Auto“, ein offener Landauer, in dem
Pistola (blendend mit antiker Autobrille und Lederhelm!) schläft und an
dem ein Kumpan herumwerkelt. Über der Tür der Glasveranda rechts im Erdgeschoß
steht „Machine Shop & Garage“. In den Szenen mit den Damen wird die ganze
Wand teilweise nach links verschoben und ein weiterer Teil des Gebäudes
mit der Aufschrift „Quickley’s Steam Laundry“ erscheint, sowie eine Außenstiege
und daneben ein Schacht – der Themse-Kanal, in dem Falstaff später landet.
Es
stellt sich heraus, daß auch Alice und Meg in der Wäscherei tätig sind,
da alle ständig Leintücher falten. Im letzten Bild wird die Kulisse ganz
nach rechts verschoben, und nun erscheint links die berühmte Herne’sche
Eiche, die an der Wand des Wohnhauses wächst, die Festgäste und Quälgeister
kommen im Auto von rechts. Am Schluß werden Plakate „Vote for Ford!“ auf
die Wände gekleistert und Ford zum Bürgermeister gewählt. Die hübschen
Kostüme von Elena RIVKINA sind ausgesprochen ansprechend und zeitgerecht
Falstaff kommt im Gehrock, roter Weste und Zylinder zu Alice, die Damen
haben – wie sich es gehört – lange Röcke, Fenton als Dandy kommt auf einem
prähistorischen Fahrrad. Philippe ALBARIC sorgte für die passende subtile
Beleuchtung. Hier ist eine perfekte Inszenierung, die durch gut durchdachte
Personenführung auch in der Wiederaufnahme völlig stimmt. Michel JANKELEWITCH
hatte diese mit Präzision betreut.
Hausherr
James CONLON dirigierte die Aufführung sehr ausgeglichen, mit sichtlichem
Vergnügen für die prachtvolle Partitur. Die subtilen Stellen waren leicht
hingepinselt und die großen lärmenden Chorszenen hatte er fest in der
Hand. An manchen Stellen mußte man an Karajan denken. Das ORCHESTER war
hörbar bei der Sache und folgte seinem Chef mit Begeisterung. Peter BURIAN
hatte den CHOR der Pariser Oper bestens einstudiert, dessen Mitglieder
sich sichtlich amüsierten.
Den
Falstaff von Jean-Philippe LAFONT zu preisen, wäre eine Untertreibung.
Er ist die Personifizierung von Sir John! Stimmlich absolut magistral,
zwischen dem hingeblätterten „Quando erro paggio dell‘ duca di Norfolk“,
bis zu seinen „Mondo reo“, wenn er triefend aus dem Kanal steigt, oder
wenn er die beiden Briefchen der Damen liebevoll anlächelt, hat er heute
kaum einen ernstlichen Konkurrenten. Zwischen seinem großartigen Barak
vor zwei Monaten in der Bastille und seinem Wotan im Mai in Lüttich, zeigt
Lafont wieder, welch ungewöhnlicher Künstler er ist. Außerdem versteht
man praktisch jedes Wort! Neben einem solchen „szenischen Monster“ hatten
es die anderen Sänger natürlich schwer.
Susan
NEVES als Alice war eine Fehlbesetzung. Da sie nun als Norma, Abigail
oder Odabella weltweit zu hören ist, wurde ihre (sehr schöne) Stimme aber
viel zu schwer (übrigens nicht nur die Stimme!) für die sehr lyrische
Alice. Louise CALLINAN spielte Meg als alte Jungfer und war etwas trocken
im Ausdruck, kam aber mit der undankbaren Rolle stimmlich zurecht. Auch
Kathleen KUHLMANN als Mrs. Quickly fehlte es etwas an Temperament und
Komik, wenngleich sie stimmlich völlig zufriedenstellend war. Stefano
ANTONUCCI (Hausdebüt in der Bastille) als Ford machte mit schöner warmer
Stimme aus dieser eher dümmlichen Rolle eine sehr gute Charakterstudie.
Charles
CASTRONOVO (auch Hausdebüt) als Fenton sang mit angenehmer tenorino Stimme
„Bocca baciata non perde ventura“ hingebungsvoll und sich in das Herz
der reizenden Patrizia CIOFI mit großen Erfolg. Seit 1999 hat sie in Paris
Lucia und „Rosenkavalier“-Sophie gesungen und ist über die Subrettenrolle
der Nannetta schon etwas hinaus. Bleiben Falstaffs Saufkumpane: Ian CALEY
gab dem Doktor Cajus stimmlich und darstellerisch seine lange Bühnenerfahrung
und war einfach hinreißend. Sergio BERTOCCHI als Bardolfo und Miguel Angel
ZAPATER als Pistola waren in jeder Hinsicht blendend.
Ein
genußvoller Abend, den das Publikum zu Recht feierte! wig.
P.S.:
Trotz des großen Angebots läßt die Koordination des Repertoires zwischen
den verschiedenen Opernhäusern in Paris einiges zu wünschen übrig. Nach
dem „Falstaff“ 1999 in der Bastille gab es einen im Châtelet (mit Lafont!)
und dann 2001 eine Produktion in Aix, die im vergangenen Jahr in Paris
gezeigt wurde. „Cenerentola“ wird heuer in Garnier und auch im Théâtre
des Champs Elysées zu hören sein (warum nicht den reizenden „Turco in
Italia“ oder die prächtige „Donna del Lago“ spielen?). In zwei Wochen
gibt es in der Bastille eine Wiederaufnahme der Willy-Decker-Produktion
von „Eugen Onegin“, sechs Wochen nach dem des Mariinski im Châtelet.
Aber
seit vielen Jahren gab es weder „Trovatore“, noch „Aida“, „Forza del Destino“,
„Fürst Igor“, „Pagliacci“, „Cavalleria rusticana“ oder „Tannhäuser“ zu
sehen. Opern wie „Ernani“, „I due Foscari“, „Battaglia di Legnano“, „Il
Corsaro“, „Luisa Miller“, „La Juive“, „I Puritani“, Donizettis Tudor-Opern
(„Roberto Devereux“, „Anna Bolena“, „Elisabetta“), „La Gioconda“, „Mazeppa“,
„Andrea Chenier“, „Fedora“, „Mefistofele“ - von Meyerbeer nicht zu reden
- sind in Paris so gut wie unbekannt...
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