Die
„Opéra éclaté“ und der sehr rührige Direktor Olivier Desbordes hatten
vor vier Jahren diese letzte deutschsprachige Kammeroper Weills aus dem
Jahre 1932 in Massy zur französischen Erstaufführung gebracht. Es war
interessant, dieses Werk wieder zu erleben. Die vier Abende dieser Wiederaufnahme
fand im Rahmen eines Mini-Festivals zeitgenössischer Opern statt (mit
der „Dreigroschenoper“, Brittens „Turn of the screw“ und der UA von „Le
condamné à Mort“ von Philippe Capdenat). Das recht neue Théâtre Sylvia
Montfort im 15. Pariser Arrondissement mit etwa 500 Plätzen ist ein futuristischer
Rundbau in einem Park am südlichen Stadtrand.
Georg
Kaiser (1878-1945) war einer der erfolgreichsten Schriftsteller der deutschen
Sprache seiner Zeit. Er ist der Autor von über 60 Theaterstücke, u.a.
das pazifistische Drama „Die Bürger von Calais“ (1913) und ein weiterer
Operntext für Weill „Der Zar läßt sich photographieren“. Er wurde überall
in Deutschland, aber auch sehr viel im Ausland, bis New York und Tokio,
gespielt. Die Uraufführung von „Silbersee“ fand gleichzeitig in Magdeburg,
Erfurt und Leipzig am 18. 2. 1933 (!!), drei Wochen nach Hitlers Machtübernahme,
statt. Ärger geht’s kaum! Es gab riesigen Krach und Schlägereien mit der
SA. Weill flüchtete einen Monat später nach Frankreich und bei einem Konzert
(mit Ausschnitten aus „Silbersee“) in der Pariser Salle Pleyel gab es
ebenso Krawalle. Ein Kritiker schrieb „Wir haben genügend schlechte Komponisten,
daß wir die deutschen Juden nicht brauchen.“ Ambiance! Weill ging dann
nach Amerika, wo er große Erfolge in Hollywood erzielte. Georg Kaiser
verließ Deutschland erst 1938 und ging ins Exil in die Schweiz, wo er
am 4. Juni 1945 völlig verarmt und praktisch unbekannt in Ascona starb.
Als
„Volksstück“ angekündigt, ist „Der Silbersee“ eher eine moralische Fabel
und ein Lehrstück, aber ohne den aufgehobenen Zeigefinger Brechts. Die
ungewöhnlich poetische und dramatische Sprache Kaisers (hier in einer
hervorragenden Übersetzung von Roland Krebs und Claude Ber) und die abwechselnd
reißerische, abwechselnd subtile Musik Weills ergeben ein äußerst packendes
Werk. Die zwischen Klassenkampf und Märchen schwankende Handlung ist heute
aktueller denn je, von Arbeitslosigkeit, Not und protzigem Reichtum geprägt.
Der
obdachlose Penner Severin und seine vier hungernden Kumpane hausen in
Mooshütten am Silbersee. Zu Beginn der Oper begraben sie eine Strohpuppe,
La Faim, den Hunger; doch der Hunger verläßt sie nicht. Sie überfallen
einen Lebensmittelladen und räumen alle Viktualien aus. Auf dem Rückweg
zu den Mooshütten treffen sie auf zwei Gendarme, den redseeligen Dicken
und den schweigsamen Olim. Im Laufe der Perlustrierung schießt Olim Severin
an. Während Olim den Polizeibericht tippt, wird Olim gleich darauf in
der Lotterie Milliardär. Er beschließt sein Leben und sein Vermögen der
Rehabilitierung Severins zu widmen. Das geht nicht ohne Schwierigkeiten,
denn Severin sucht seinen Angreifer. Wenn Olim entlarvt wird, kommt es
zur dramatischen Konfrontation und Trennung, die schließlich in einer
- etwas rührseligen - Aussöhnung endet. Beide pilgern in einer Art Auferstehung
zu den Mooshütten und während er Chor „Ihr seid nicht entbunden von der
Pflicht zu leben!“ singt, entschwinden beide über den gefrorenen Silbersee.
Weill
schleust öfters die Musik seiner früheren Werke („Mahagonny“, „Dreigroschenoper“)
ein, wie die Ballade „Cäsars Tod“ oder der Weizenbrot-Song. Die schmissige
Ouvertüre gibt bereits einen Vorgeschmack. Musikalisch sind am interessantesten
die sehr gut und dicht durchkomponierte Zwischenspiele. Melodrama, Gassenhauer,
Sprechgesang, ein Klaviersolo von Salonmusik, dichte Ensembles und kleine
Chöre werden sehr effizient verwendet. Es ist kein Wunder, daß Weill wenige
Jahre später in Hollywood Furore machte.
Michel
FAU als Olim und Eric PEREZ als Severin (der bereits vor vier Jahren die
Rolle gestaltet hatte) stellten sehr glaubhaft die beiden Hauptfiguren
dar. Die Bühnenpräsenz der beiden Sänger und ihre gesanglichen Qualitäten
trugen die Aufführung. In den kleineren Rollen ist vor allem die stimmlich
und darstellerisch ausgezeichnete Francine BERGÉ als Frau von Luber, die
Olim um sein Vermögen prellt, zu nennen, sowie Natalia CADET als Fenimore,
ihre Nichte vom Land. Ausgezeichnet waren auch die beiden Verkäuferinnen,
denen Severin und seine Kumpane den Laden plündern, Christine TOCCI und
Flore BOIXEL. Sehr stimmfest waren die vier Kumpane mit Damien BIGOURDAN,
Eric DEMARTEAU, Richard LAHADY und Rul ANGELO besetzt. Eric VIGNAU als
Baron Laur und Jean-Pierre DESCHAIX als dicker Gendarm und Arzt rundeten
das sehr geschlossene Ensemble ab.
Der
junge Dirigent Jean-François VERDIER fiel durch präzise Zeichengebung
auf und leitete das ORCHESTRE OPÉRA ECLATÉ (16 Instrumentalisten plus
Klavier) sehr zügig.
Der
gelungene praktikable Einheitsdekor von Patrice GOURON (auch Kostüme und
Beleuchtung) vor einer Ziegelwand mit passenden Türen und Fenstern bestand
aus einem riesigen 10 Meter langen Aufbau, der als Festtafel, Brücke,
Polizeikommissariat, Kaufladen und Krankenzimmer diente. Der Direktor
der Opéra Eclaté Olivier DESBORDES führte darin und im Zuschauerraum seine
Sängerschar mit fester Hand durch das traumhafte Geschehen des ungewöhnlichen
Werks.
Das
ausverkaufte Haus dankte den Künstlern mit großem Beifall. wig.
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