Es
geht heuer auf den Pariser Opernszenen im allgemeinen sehr slawisch zu.
Nach der laufenden Reihe „Bohemia Magica“ hat das Théâtre du Châtelet
nun eine große „Russische Saison“ geplant, die im Herbst bereits mit zwei
Ballettabenden des Theaters Mariinski in Sankt Petersburg („Nußknacker“
und „Bayadère“) eingeleitet wurde. Nicht weniger als sechs russische Opern,
davon zwei von Rimski-Korsakow und die Rarität „Der Dämon“ von Anton Rubinstein,
umrahmt von zahlreichen Konzerten, sowie Janaceks „Jenufa“ und Szymanowskys
„König Roger“ konzertant, sind auf dem Spielplan.
Dies
ist nicht die erste „russische Saison“, denn vor achtzehn Jahren hatte
der damalige Direktor des Châtelet, Jean-Albert Cartier, bereits eine
mit drei russischen Opern gebracht, von denen „Der goldene Hahn“ von Rimski-Korsakow
den größten Erfolg hatte, dank der farbenprächtigen und üppigen japanischen
Inszenierung. Klugerweise wurde diese sensationelle, nach San Francisco
„verborgte“ Produktion repatriiert und neu einstudiert.
Historisch
sind die kulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland mehr
als zweihundert Jahre alt. Auch während des kalten Kriegs gab es mehrmals
Gastspiele des Bolschoi oder des Kirov. Anfang des 20. Jahrhunderts kam
Diaghilev nach Paris und gründete die „Ballets Russes“, die Pavlova und
Nijinski zu Weltstars machte. Besonders nach dem 1. Weltkrieg bildete
sich eine Kolonie geflüchteter Adeliger in Paris, Nizza und Biarritz.
Da die Herrschaften nie gearbeitet und keinen Beruf hatten, wurden sie
in Paris … Taxichauffeure und sangen jeden Sonntag in der russischen Kirche
der Rue Daru. Bis in die sechziger Jahre waren die Pariser Taxis fest
in russischer Hand. Als EMI in den fünfziger Jahren erstmalig komplette
Opernaufnahmen machte, wurden mehrere russische Opern (meist unter Issaye
Dobrowen) in der Salle Pleyel (der Bühnenausgang ist in der Rue Daru)
aufgenommen mit dem Chor der russischen Kirche nebenan. An den Aufnahmetagen
konnte man in Paris kein Taxi finden…
Was
kennt man schon von Rimski-Korsakow (1844-1908)? Nicht viel. Er hat nicht
nur den „Hummelflug“, „Scheherezade“ und das „Capriccio espagnol“ geschrieben
und nicht nur die Opern anderer fertiggestellt und instrumentiert. Er
war ein sehr fruchtbarer Komponist von symphonischen Werken, Kammermusik,
Klavierstücken und vor allem fast eines Dutzend Opern. Autodidakt, wurde
er – nach einer beginnenden Karriere als Kapitän, wobei er eine Weltumsegelung
machte - nichts desto weniger mit 27 Jahren Professor für Komposition
und Instrumentation und wurde in dieser Funktion weltberühmt (zu seinen
Schülern zählten u.a. Arenski, Glazunow, Liadov, Prokofiev, Respighi und
Strawinsky). Der Besuch des ersten „Rings“ 1890 in Petersburg war für
ihn eine wichtige Entdeckung, ebenso wie „Salome“ und „Pelléas“, die er
1905 in Paris sah. Er ist ein unumstrittener Meister der Orchestrierung,
und seine Klangsprache ist nach wenigen Takten erkennbar. In seinen letzten
zehn Jahren seines Lebens schrieb Rimski-Korsakow nicht weniger als sechs
Opern, seine wichtigsten und reifsten. Die dreiaktige Oper „Der goldene
Hahn“ ist sein letztes Werk, dessen Uraufführung er jedoch nicht erlebte.
Das
Werk – wie mehrere frühere – beruht auf einem dramatischen Gedicht Puschkins.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die historisch-heroische Volksepen vertonten
(„Boris Godunow“, „Chowantschina“, „Fürst Igor“ etc.), bevorzugte Rimski-Korsakow
Fabeln und Märchen als Libretti. Der bewußt märchenhafte, einigermaßen
subversive Text beschreibt die Abenteuer des vertrottelten Zaren Dodon,
der nur ans Schlafen denkt, dessen Söhne Gvidon und Afron keine Leuchten
sind, der von der Königin von Schemaka lächerlich gemacht wird und den
der Astrologe praktisch überrumpelt, bevor er diesen umbringt und schließlich
vom goldenen Hahn selbst niedergepickt wird. Man muß bisweilen an ein
anderes subversives Stück mit einem bekloppten König denken, Büchners
„Leonce und Lena“.
Das
Thema, das Rimski-Korsakows treuer Librettist Vladimir Bielski so gut
er konnte „annehmbar“ machen wollte, kam dem repressiven Regime von Zar
Nikolaus II. kurz nach der katastrophalen Niederlage gegen Japan und der
Revolte des blutigen Sonntags (9. Januar 1905) kaum gelegen. Während der
folgenden Unruhen am Konservatorium hatte Rimski zu allem Überfluß noch
ein revolutionäres Studentenlied („Dubinuchka“) orchestriert! Resultat:
die Zensur schnitt und schnitt und verzögerte. Erst am 24. September 1909
wurde die Oper in einer Privataufführung gebracht und zwei Monate später
am Bolschoi. Die Erstaufführung im „Westen“ fand am 21. Mai 1914 in Paris
statt, von Diaghilev als Ballett inszeniert, mit den Sängern im Orchester
und in den Kulissen. Seither bleiben der „Goldene Hahn“ und so gut wie
alle Opern Rimskis in unseren Breiten praktisch ungehört. Schade! Einzig
an der Berliner Komischen Oper spielt man seinen „Zar Saltan“. Rimskis
„Zarenbraut“ (1898) wird im Mai in Bordeaux herausgebracht und übersiedelt
Ende Juni ins Châtelet.
„Der
goldene Hahn“ besticht durch die Kürze der Szenen und die sehr ökonomische
Verwendung des Orchesters (nur 105 Minuten Musik), was an vielen Stellen
eine kammermusikalische Atmosphäre ergibt. Die drei Hauptthemen ertönen
bereits im kurzen Vorspiel: die Trompeten des Hahnenrufes (absteigend,
wenn es ruhig ist, aufsteigend, wenn Gefahr droht), die orientalisierende
Sonnenhymne der Königin Schemaka und das Schrittmotiv (Glockenspiel/Flöte
mit Harfe/pizzicato Celli) des Astrologen. Diese drei Motive werden systematisch
eingewoben und werden durch Märsche, Chöre und deklamatorische Szenen
ergänzt. Der Zar, seine Söhne und die Nebenrollen sind nicht wirklich
leitmotivisch charakterisiert, sondern eher rhythmisch. Rimski-Korsakow
hat auch eifrigst frühere Themen aus „Scheherezade“ oder die Arie des
indischen Prinzen aus „Sadko“ wieder verwendet.
Die
Produktion des Châtelet wurde 1984 von Ennosuke III ICHIKAWA inszeniert,
einem der großen Meister des Kabuki-Theaters. Isao TAKASHIMA besorgte
die Wiederaufnahme. Er umgab sich mit einem Team, in dem Setsu ASAKURA
für das einfache Bühnenbild einer aufsteigenden Stiege mit einigen stilisierten
Versatzstücken und Tomio MOHRI für die spektakulären Kostüme zeichneten.
Die gesamte Ausstattung wurde in Tokio in den Werkstätten der Firma OMOKADA
hergestellt und heuer restauriert. Nicht zu vergessen das Team von zwölf
Schminkdamen, das Susanne PISTEUR leitete. Jean KALMAN besorgte die passende
Beleuchtung. Die Choreographie des spektakulären Festballetts (u.a. mit
einem wirklichen Riesen - Guillaume JEGOU, sicher 2,20 Meter) besorgte
Kanshino FUJIMA.
Selten
sind auf einer Opernbühne Kostüme von derartiger Farbenpracht und Luxus
zu sehen gewesen, mit ausgesuchten Schminkeffekten. Es ist schwer den
Parademantel aus Brokat, Samt und Seide mit Goldbestickung des Zaren Dodon
zu beschreiben – er wiegt immerhin 15 kg. Königin Schemaka erscheint aus
einem spitzen Zelt und trägt einen kleinen Kristallleuchter als Kopfschmuck.
Der Hahn ist eine mit goldenen Federn von Kopf zu Fuß gekleidete Sängerin,
die von einem Türmchen die Schreie losläßt. Das Fahnenschwingen und -
werfen am Ende des 1. Akts muß man gesehen haben, einfach atemberaubend!
In diesem brillanten Dekor führte Enosuke III Ichikawa die Sänger und
den Chor in statischen, bisweilen starren Posen. Die kriegerischen Posituren
der beiden Zarewitsche, jeder mit einem unsinnigeren Kriegsplan, sind
höchst symbolisch. Der dazu tretende Astrologe gibt mit Dodon, den beiden
Söhnen und Polkan eine geometrisch strukturierte Linie. Das alles ist
in hohem Maße durchdacht, ohne je ermüdend oder langweilig zu werden,
da es das Groteske der Situation unterstreicht. Ebenso wie die Märsche
oder der angstvolle Chor des 3. Akts, der in eine quadratische Aussparung
der Stiegen gepfercht ist und so die Ankunft des Zaren erwartet (Rimski
machte sich wenig Illusionen über die politische Reife des russischen
Volkes!).
Sängerisch
ist die Oper nicht zu anspruchsvoll, mit Ausnahme der Königin Schemaka,
eine brillante Rolle für einen Koloratursopran. Die attraktive Olga TRIFONOVA
erfüllte die Rolle ausgezeichnet, die immerhin aufs hohe „E“ geht. In
der Höhe wird die Stimme bisweilen etwas schrill (bei der Rundfunkübertragung
am 28. Dezember sang sie viel freier), doch ihr Legato ist prachtvoll.
Albert SCHAGIDULLIN sang den Zaren Dodon sehr passend, er besitzt die
richtige Stimme für die meist deklamierende Rolle.
Sein
beiden streitenden Söhne Gvidon und Afron sind eher kleinere Rollen, da
sie sich vor dem 2. Akt bereits gegenseitig umbringen: Ilya LEVINSKY und
Andrei BREUS sangen und spielten die aufdringlichen Zarewitsche bestens.
Ilya BANNIK besitzt einen schwarzen russischen Bass, den er passend für
den General Polkan einsetzte, ebenso wie Elena MANISTINA als sorgende
Amme Dodons, die mit ihrem typisch russischen Mezzo dem Volk gegenüber
sehr herablassend ist.
Ein
besonderes Lob gebührt dem Engländer Barry BANKS, der den Astrologen mit
Naturstimme und Falsett (sehr hoher Tenor, bis zum hohen „E“!!) in einem
prächtig gestickten schwarzen Kaftan absolut hinreißend gestaltete. Die
junge Yuri Maria SAENZ in der Titelrolle sang mit klarer Glockenstimme
die Hahnenschreie, flatterte mit Schwung von ihrem Turm und erstach den
König mit Bravour.
Der
CHOR DES MARIINSKI THEATERS SANKT PETERSBURG war von Andrei PETRENKO bestens
einstudiert worden und folgte willig der ungewöhnlichen Regie. Kent NAGANO
leitete das ORCHESTRE DE PARIS mit größter Umsicht und Sinn für das Detail
der zwischen Träumerei und Schlachtenlärm oszillierenden Partitur. Ein
Triumph! wig.
|