Als
Bohuslav Martinù 1923 mit einem Stipendium in Paris ankam, war er kein
Unbekannter, denn mehrere seiner Komposition waren bereits erfolgreich
aufgeführt worden. Er war an die Seine gekommen, um sich bei Albert Roussel
zu perfektionieren, denn er hatte keinerlei geistige und musikalische
Verbindung mit der "Wiener Schule" und der harten Zwölftönerei. Er dachte
aber nicht, daß er achtzehn Jahre in Frankreich bleiben würde, um dann
nach USA fliehen zu müssen. Doch diese Zeit sollte für ihn sehr ausschlaggebend
werden.
Mit
der Pariser tschechischen Kolonie um den Dichter Vitezlav Nezval und die
Maler Josef Sima und Frantisek Kupka trat er rasch in Kontakt, was anderseits
zu Verbindungen zu den Surrealisten und Dadaisten führte. Die Pariser
"Szene" war sehr aktiv, international und Verbindungen konnten leicht
geknüpft werden. Im Theater, im Ballett, in der Musik war sehr viel los,
und Martinù schrieb mehrere Ballettmusiken, aber auch Symphonien, Kammermusik
und Rundfunkopern. 1930 wurde das Stück "Juliette" von Georges Neveux
(der aus der Ukraine gekommen war) in Paris uraufgeführt und mit Befremdung
von Publikum und Kritik aufgenommen. Als Martinù es sah, war er begeistert
und begann 1936 mit der Vertonung. Als er dann einige Monate später Neveux
kennen lernte, erklärte er ihm, daß er sein Stück als Oper komponiere.
Er lud den Autor zu sich ein, um ihm den ersten Akt vorzuspielen. Neveux
war derart hingerissen, daß er am selben Abend ein Telegramm an den amerikanischen
Agenten Weills schickte, um das "Juliette"-Libretto zurückzuziehen, das
er Kurt Weill versprochen hatte! Vor der Unmöglichkeit einer französischen
Aufführung, beschloß Martinù das Stück ins Tschechische zu übersetzen
und "Julietta" wurde am 16. März 1938 im Prager Nationaltheater uraufgeführt.
Kurz
vor seinem Tod 1959 verfaßte Martinù mit Georges Neveux selbst eine französische
Fassung, die erst 1976 in Rouen aufgeführt und nun ins Repertoire der
Pariser Oper aufgenommen wurde. Die Programmierung einer tschechischen
Saison in Frankreich hat bereits seine Früchte getragen, nach viel tschechischer
Kammermusik, gab es "Rusalka" in Lyon und Paris, "Das schlaue Füchslein"
und demnächst "Jenufa" in Paris. Es wurde Zeit für eine vor 66 Jahren
in Paris komponierte Oper!!!
Eine
Handlung ist in "Juliette" praktisch nicht vorhanden. Michel hat sich
in eine junge Frau, die er am Fenster singen hörte, verliebt und kommt
nun nach drei Jahren wieder in die südfranzösische Hafenstadt, um Juliette
zu finden. Nur, in dieser Stadt haben alle Einwohner das Gedächtnis verloren,
der Briefträger stellt drei Jahre alte Briefe zu, niemand weiß mehr, daß
es einen Bahnhof gibt oder das "Hotel des Voyageurs". Alles ist in einer
psychologischen Zwischensphäre zwischen Traum und Wirklichkeit eingeschlossen.
Als einzigen Ruf aus "der guten alten Zeit" spielt ein Mann auf der Ziehharmonika
eine Melodie, die immer wieder auftaucht, ebenso wie Juliettes Lied.
Juliette
ist ebenso von der "Krankheit" erfaßt, aber umgekehrt: wenn der Souvenirhändler
nach dem Liebesduett im 2. Akt mit Fotos auftaucht, bildet sie sich ein,
daß sie auf diesen Fotos mit Michel in Spanien auf Urlaub war. (Hier spielt
der Text mit der Ambiguität des Wortes "Souvenir", das sowohl Andenken
als auch Gedächtnis bedeutet.) Im 3. Akt verteilt ein sturer Beamter die
Träume nach Quoten für Paris, Straßburg, Avignon usw. Der blinde Bettler,
der am Mittwoch gekommen ist, kriegt seinen nächsten Traum erst wieder
nächsten Dienstag, Vorschrift ist Vorschrift. Langsam holen sich die Männer
ihre Träume ab, aber alle wollen Juliette wiedersehen und klettern durch
einen Registerknopf in das Akkordeon, was Michel natürlich nicht sehr
goutiert. Es ist ein sehr ungewöhnliches Werk, zumal am Ende des 3. Akts
alles genau so wie am Anfang des 1. Akts ist, einschließlich Schläfer
und Ziehharmonika, und einen Kreis schließt: die Oper könnte neu beginnen.
Trotz der unwirklichen, phantastischen Atmosphäre ist der Besucher von
dieser Parabel um das "ewig Weibliche" fasziniert.
Ein
Vergleich mit zwei anderen Opern drängt sich auf: Korngolds "Tote Stadt"
(1920, nach einem symbolistischen Text von G. Rodenbach) und Poulencs
"Les Mamelles de Terésias" (1947, mit surrealistischem Libretto von Guillaume
Apollinaire). In allen drei Werken ist die Handlung auf zwei Hauptpersonen
beschränkt, das Liebespaar, umgeben von einer Fülle von - oft grotesken
- Randfiguren, durchwegs sehr charakterisiert und ausgefeilt. Der phantastische,
träumerische Charakter dominiert in den drei Opern, und Kneipenszenen
spielen eine wichtige Rolle. Die drei Komponisten haben sich nie in die
Dodekaphonie verirrt und sind in weiten Strecken der musikalischen Tradition
ihrer Herkunft verbunden geblieben. Das ist bei Martinù völlig klar: an
zahlreichen Stellen wird man an Dvorak erinnert, auch an Janacek, wie
verschiedene Klopfthemen im 2. Akt bezeugen. Martinù hat aber auch die
Musik seiner Wahlheimat Frankreich sehr gut eingeschleust. Das Lied Juliettes
(immer mit Klavier) könnte ein französisches Chanson der zwanziger Jahre
sein, während die Kneipentänze sehr böhmisch sind.
Die
ausgezeichnete - leider etwas gekürzte - Aufführung an der Pariser Oper
war dem englischen Team Richard JONES (Reigie) und Antony McDONALD (Bühnenbild
und Kostüme) anvertraut worden, das bereits vor einigen Jahren einen beachteten
"Zwerg" von Zemlinsky gebracht hatte. Vor Beginn ist die Bühne mit einem
schwarzen Vorhang geschlossen, auf dem ein Dutzend Schläfer in allen möglichen
Positionen auf Polstern kauern, den ganz rechts hat der Held, Michel,
innegehalten, bevor der Vorhang sich hebt und alle Beteiligten auf dem
Boden der Bühne liegend schlafen. Langsam schieben sich von rechts eine
Tastatur und ein Blasebalg eines mit Fenstern und Türen ausgestatteten
Akkordeons ein. In allen drei Akten wird die Ziehharmonika wieder kommen:
im 2. Akt liegend, mit den chromatischen Knöpfen nach vorne, die u.a.
auch die Baumstrünke des Waldes abgeben; groß ausgezogen im 3. Akt, mit
den Tasten nach vorne und auf den Falten des Blasebalgs sind Kartei-Kärtchen
mit den Namen französischer Städte aufgesteckt. Der Beamte thront mitten
drin. Juliettes Fotos flattern als Flugbläter vom Schnürboden herunter.
Das Bühnenbild wurde sehr gelungen von Matthew RICHARDSON ausgeleuchtet.
Der
junge deutsche Dirigent Marc ALBRECHT hatte die schwierige Aufgabe, diese
ungewöhnliche Partitur dem Publikum nahe zu bringen, was man als sehr
gelungen werten darf. Er holte aus dem ORCHESTER DER PARISER OPER sowohl
slawische Melodien, als auch Klopf- und Schrummgeräusche heraus.
Alexia
COUSIN ist eine bildschöne junge Sängerin mit strahlendem Sopran, den
sie mit Meisterschaft führt, fast schon etwas zu dramatisch für die fragile
Rolle der Juliette. Der Amerikaner William BURDEN ist als Michel praktisch
ohne Unterbrechung auf der Bühne. Sein wunderschöner, gut geführter lyrischer
Tenor ist der schweren Partie durchaus gewachsen und er spielt sehr überzeugend.
Sein absolut perfektes Französisch ist besonders erwähnenswert.
Die
vielen Nebenrollen wurden teils von jungem Nachwuchs, teils von alten
Haudegen, meist in mehreren Rollen, blendend dargestellt: Michèle LAGRANGE
als Kartenlegerin und Vogelhändlerin, Ivan MATIAKH als Kommissar, Briefträger
und vor allem als Beamter war ausgezeichnet, ebenso wie Laurent NAOURI
als Mann mit Tropenhelm, Andenkenhändler und Sträfling und Alain VERNHES
als Akkordeonspieler, Alter und Bettler. Karine DESHAYES, Martine MAHÉ,
Gaëlle LEROI, Marie-Thérèse KELLER, Christian TREGUIER, Yves BISSON und
Marc PUJOL, sowie sechs Damen des CHORs (unter Peter BURIAN) stellten
rollendeckend die weiteren Bewohner der Stadt ohne Erinnerung dar. Ein
großer Erfolg und ein großer Abend für die Pariser Oper! wig.
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