René
Koering, der sehr rührige musikalische Direktor der öffentlichen Rundfunkgesellschaft
France Musiques (und des "Festival de Radio France et Montpellier" im
Juli), Spezialist für Ausgrabung von Kuriositäten, organisiert alle Monate
ein Wochenende um ein Thema unter dem Titel "Figures de …"; diesmal war
es Italien. In diesem Rahmen wurden die beiden ersten Opern Puccinis "Le
Villi" (franz. EA!) und "Edgar" konzertant gegeben, umrahmt von Konzerten,
die von Klostermusik des 17. Jahrhunderts bis zu Volksliedern und Jazz
gingen. Die beiden Opern, die auf Libretti des Mailänder Musikkritikers
Ferdinando Fontana beruhen, kann man kaum als gelungen bezeichnen. Was
u.a. erklärt, weshalb die beiden Opern so gut wie nie gespielt werden.
"Le
Villi" wurde ein kurioses Werk von Giorgio Federico Ghedini vorangestellt,
das "Concerto dell'albatro" (1945, EA), ein Tripelkonzert (à la Beethoven)
mit Sprecherin. Eine Szene aus Melvilles "Moby Dick" verwendend, erinnert
das Stück in seiner Art an Respighis "Il Tramonto" oder an "Enoch Arden"
von Richard Strauss. Die um die Jahrhundertwende sehr verbreitete Form
des Melodramas ist hier durch ein konzertierendes Trio ergänzt. Es beschreibt
die erste Sicht des Albatros durch den staunenden jungen Matrosen in der
Antarktis. Ghedini verwendet abwechselnd kraftvolle Tonballungen und sehr
lyrische Stellen (vor allem wenn die Sprecherin rezitiert). Das WANDERER-TRIO
(Vincent COQ, Klavier, Jean-Marc PHILIPPS-VARABEDJAN, Violine, Raphaël
PIDOUX, Cello) entledigte sich der ungewöhnlichen Aufgabe mit großer Musikalität
und intensivem Ausdruck. Nicht zu vergessen, die ausgezeichnete, perfekt
zweisprachige Sylvie DAVID, die die Texte auswendig im Ghedini Konzert
italienisch und in "Le Villi" französisch mit sehr präziser Diktion sprach.
"Le
Villi" behandelt das selbe Thema wie das Ballett "Giselle", die Handlung
ist jedoch aufs äußerste auf zehn Nummern zusammengepfercht, mit nur drei
Personen: Anna, ihr Vater Guglielmo und ihr Verlobter Roberto, sowie eine
Sprecherin. Als Arbeit für einen Wettbewerb, den der Mailänder Magnat
Sonzogno finanzierte, für eine einaktige Oper in knappen vier Monaten
geschrieben, wurde das Werk nicht prämiert. Es wurde aber dann auf Drängen
Boïtos (der in der Jury war) nach Umarbeitung auf zwei Akte im Teatro
dal Verme in Mailand 1884 triumphal uraufgeführt. Wenngleich "Le Villi"
sicher nicht die beste Oper des erst sechsundzwanzigjährigen Komponisten
aus Lucca ist, kann man bereits die "Pranke" Puccinis erkennen.
Die
Ouvertüre erinnert an den Verismus Mascagnis und Leoncavallos, und das
"Eviva" des einleitenden Chors der Montanari ist ein riesiger Klamauk,
der sich aber dann etwas legt und an den Sturmchor aus "Otello" erinnert.
In der Romanze der Anna ist bereits "La Bohème" vorgefühlt und das folgende
große Duett zwischen Anna und Roberto ist wirklicher Puccini. Das Finale
des 1. Akts der drei Solisten mit Chor verfällt wieder in veristischen
Krach, der selbst Meyerbeer Ehre gemachte hätte.
Den
2. Akt beginnt die Sprecherin mit einer Erklärung, was seit dem eben gehörten
Finale passiert ist: Roberto hat sich von einer Rheinnixe becircen lassen
und Anna vergessen, die aus Verzweiflung stirbt. Der Frauenchor singt
salbungsvoll "O pura virgo, resquiesce in pace!", während sich der Trauerzug
zum Friedhof begibt. Die Sprecherin erklärt dann, daß der böse Roberto
von den Villi im Schwarzwald verfolgt wird, was Anlaß zu einem Hexensabbat
von größter Lautstärke ist. Vater Guglielmo hat eine prächtige Szene mit
Arioso und großer Arie, in der er seine Tochter beweint und sich an Roberto
rächen will, musikalisch wohl die beste Stelle der Partitur. Roberto tritt
auf und wird von den Villi verfolgt. Anna erscheint plötzlich wieder,
um ein Duett mit Roberto zu singen; das unweigerlich an das Schlußduett
aus "Manon Lescaut" erinnert. Der sehr rhythmische Chor de Villi und Geister
geht auf Roberto los "Gira! Balza!" bis Anna ihn erlöst, und der Chor
in eine großes "Hosannah!" ausbricht. Trotz der - für unser Gefühl ans
Groteske grenzende - Thematik, hat die Oper einige interessante Stellen
und schöne Musik. Die Kompression der Handlung ist natürlich nicht angetan,
die Geschichte wahrscheinlicher zu machen.
Die
Aufführung im Auditorium Olivier Messiaen war von bester Qualität. Mélanie
DIENER als Anna, sang souverän die Rolle der getäuschten Geliebten, mit
großem Ausdruck und Gefühl. Zwar um einen Kopf kleiner, war Aquiles MACHADO
ein vollblütiger Roberto, der sowohl die Lyrismen des Liebenden, wie die
Zweifel und Reue des Sünders mit strahlendem Tenor und Kraft ausdrückte.
Der junge Baß-Bariton Ludovic TÉZIER gab dem Vater Guglielmo die Noblesse
der Trauer und Verzweiflung mit einem strahlenden "F" am Ende seiner Arie.
Das
ORCHESTRE PHILHARMONIQUE DE RADIO FRANCE (das 2. Radioorchester) unter
der Leitung von Marco GUIDARINI schwelgte im puccinischen Klang; das sehr
viel verwendete Schlagzeug und Blech war "allzeit bereit". Nicht zu vergessen
der prachtvolle CHŒUR DE RADIO FRANCE (unter Norbert BALATSCH), der auf
weiten Strecken die Handlung führt. Großer Beifall für das sehr ungewöhnliche
Programm. wig
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