Es
gibt in Paris fünf Theater, die Opern und Ballett spielen: die beiden
Häuser der Nationaloper, Bastille und Garnier, die Opéra comique, das
Châtelet und das Théâtre des Champs Elysées. Was selbst "Eingeborene"
nicht kennen, ist das sechste Opernhaus, das in der Satellitenstadt Massy
liegt, 20 km südlich vom Pariser Stadtzentrum. Die sehr rührige Opéra
de Massy spielt seit über zehn Jahren, mitten unter Betonklötzen Theater,
Ballett, Konzert und Oper. Die heurige Saison bietet nicht weniger als
sechs Opern, davon vier in Eigenproduktion mit dem eigenen ORCHESTRE DE
MASSY, bisweilen in Koproduktion, diesmal mit Dijon.
Rossinis
"Cambiale di Matrimonio", natürlich nicht mit "Barbiere" oder "Cenerentola"
zu vergleichen, ist jedoch einer der zahlreichen, sehr gelungenen Einakter,
die Rossini zwischen 1810 und 1812 für verschiedene Theater Venedigs schrieb
("Scala di seta" und "Signor Bruschino" sind am bekanntesten). Er war
noch nicht dreißig. Man hört, vor allem in den lyrischen Stellen, noch
den starken Einfluß Mozarts.
Die
einigermaßen an den Haaren herbeigezogene Geschichte - die zu allem Überfluß
in England spielt - von dem pleite gegangenen Sir Tobias, der seine hübsche
Tochter Fanny an den reichen Kanadier Slook verkuppeln will, um seine
Schulden zu zahlen, und dann doch von der Güte Slooks überrumpelt wird,
ist natürlich ein alter Hut und hat unzählige Varianten in der komischen
Oper, im Vaudeville und im Boulevardtheater gefunden. Das Team der Produktion
hat sich eher vom letzteren inspirieren lassen und die Handlung um 1900
zwischen Feydeau und Guitry angesiedelt. Die Rezitative wurden klugerweise
völlig gestrichen und durch französische Dialoge ersetzt. "Hier wird französisch
gesprochen und italienisch gesungen!" proklamiert Tobias in einer der
ersten Szenen.
Die
einheitliche Szenerie ist passend und einfach (Bühnenbild, Kostüme und
Beleuchtung Partice GOURON): ein etwas verwahrlostes Büro mit einer gläsernen
Galerie dahinter, mit Blechgarderoben und museumsreifer Underwood Schreibmaschine
auf einem übergehenden Schreibtisch. Vincent VITTOZ führt die durchwegs
junge Sängerschar mit Genuss durch das chaotische Geschehen.
Unter
diesen sticht Isabelle PHILIPPE als Fanny hervor. Sie hat eine volle,
gut ausgebildete und blendend geführte Koloratur-Stimme, ist hübsch und
besitzt ein ausgesprochenes Spieltalent. Es wird Zeit, diese sympathische
Sängerin auf größeren Bühnen zu hören. Der kanadische Holzfäller (so ist
er jedenfalls ausstaffiert) Slook war Christophe LACASSAGNE, und er spielte
und sang mit gut tragendem Baß die Rolle bestens. Fannys Liebhaber Eduardo
war bei Sébastien LAGRAVE gut aufgehoben, eine typische Tenorino-Stimme,
der die etwas dämliche Rolle wie Woody Allen spielte.
Den
Vater Tobias gab Jacques CALATAYUD etwas polternd und nicht sonderlich
diskret. Aber er erfüllte die Rolle des genarrten Vaters rollendeckend.
Anne BARBIER als Clarina, spielte die Sekretärin des Ladens passend als
Vamp. Eric DEMARTEAU als Faktotum Norton hat einen etwas schrillen Baß,
was aber hier nicht sonderlich stört.
Der
rührige Direktor des Orchestre de Massy, Dominique ROUITS führte seine
Truppe durch die Accellerandi, vernachlässigte aber nicht die mozartisch-lyrischen
Passgen der Partitur. Großer Applaus des sonntägigen Publikums, unter
dem - wie immer - viel Jugend anwesend war. wig.
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