"DAS GESICHT IM SPIEGEL“- 19. Juli 2003

Zur Zeit feiert München 350 Jahre Oper mit Ausstellungen, Buch, Symposion und einem Opern-Auftragswerk. Und wer käme besser für letzteres in Frage als ein junger Münchner Komponist? Der dreißigjährige Jörg Widmann komponierte ein neues Werk für das bald 250 Jahre alte Cuvilliéstheater, und die Uraufführung fand nun während der diesjährigen Opernfestspiele statt.

Obwohl Widmann bereits Schauspielmusiken für Shakespeare-Inszenierungen geschrieben hat, wollte er bei seinem eigenen Werk ein zeitgenössisches Sujet. Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig schrieb ihm ein Libretto, wie es kaum aktueller sein könnte. Einem Forscherehepaar, auch bei ihrer Arbeit stets den ängstlichen Blick auf die Börsenkurse gerichtet, gelingt es, einen Klon der Frau zu erschaffen. Der wirtschaftliche Erfolg bleibt nicht aus, die Katastrophe auch nicht. Der Mann, Bruno, verliebt sich in den Klon, der soviel menschlicher und weiblicher ist als seine Frau Patrizia. Am Ende stehen Tod und Verzweiflung, dann also doch wie bei Shakespeare.

Das ORCHESTER ist mit nur sieben Streichern (keine Bratschen) besetzt, dafür neben den Schlagzeug mit doppeltem Holz, Akkordeon, und einem Saitenvirtuosen, der seinen Gitarren und Banjos mal metallische, mal fast menschlich aufheulende Klänge entlockt. Peter RUNDEL hat am Pult den Abend sicher unter Kontrolle.

Vor einem eher technisch kahlem Hintergrund mit Videoeinspielungen (Bühne: Katrin HOFFMANN) gibt der TÖLZER KNABENCHOR gleich zu Beginn vom Zuschauerraum aus ein beklemmendes akustisches Bild einer erwachenden Großstadt unserer Zeit. Der Tag des Durchbruchs in der neuen Menschenerschaffung beginnt.

Regisseur Falk RICHTER zeigt das Ehepaar beim gemeinsamen Frühstück, das weder wirklich gemeinsam ist, noch wird außer Pillen etwas gegessen. Kälte bestimmt das Bild und auch die Musik gönnt sich keine Ruhe, kein Verweilen, drängt vorwärts, bis auch sie mit der Menschwerdung des Klons Justine etwas Luft holt. Die Katastrophe wird dadurch nicht aufgehalten, im Gegenteil. Nach einem orgiastischen Zusammentreffen von Bruno und Justine bleibt für Patrizia nur noch der Haß und für Bruno der Tod. Justine will ebenfalls sterben in der Verwirrung um ihre Gefühle, die sie eigentlich gar nicht haben kann, aber auch der Tod wird ihr, als lebendes Ersatzteillager erschaffen, nicht zugestanden. Das Schlußwort neben Justine hat, wie kann es beim Klarinettisten Widmann anders sein, die Klarinette, in diesem Fall stimmungsvoll unterstützt vom Akkordeon. Die Katastrophe endet leise, hier ist die Ruhe, die vorher nicht sein konnte.

Die Sänger, besonders die Frauen, leisten fulminantes. Salome KAMMER als Patrizia macht ihrem Ruf als Stimmakrobatin alle Ehre, wenn sie von der Sprechstimme in hohe Lagen springen muß und öfters nur Laute artikuliert. Auch Justine hat bei ihrer Menschwerdung viel Lautarbeit zu leisten. Julia REMPE wahrt dabei immer das humane, weiche, mit leichtem Sopran. Dale DUESING als Bruno und Richard SALTER als weißbekittelter trauriger Forscher Milton, der sich ebenfalls in Justine verliebt, runden das Bild ab.

An diesem Abend sieht es mit der Zukunft der Menschheit vielleicht nicht gut aus, mit der Oper in München nach 350 Jahren aber schon. Kerstin Schröder