Ich
möchte zwei Dinge dieser Kritik vorausschicken. Ich kenne und liebe "Chess"
seit weit über zwanzig Jahren, und Tim Rice ist für mich der unbestrittene
König der Musical-Librettisten. Aus letzterem Grund waren die deutschen
Texte geradezu schmerzhaft, da sie jegliche Doppelbödigkeit vermissen
ließen, teilweise an der tatsächlichen Bedeutung mehr als nur haarscharf
vorbeigingen.
Vollkommen
verwirrend war die gespielte Fassung, die offenbar eine Lüneburger Version
war. Einige Songs fehlten oder fanden sich an Stellen wieder, wo sie wenig
Sinn machen. Gravierender noch war das Einfügen zweier ABBA-Songs. Ja,
Björn Ulvaeus und Benny Anderson waren die beiden "B" dieser Gruppe, und
es handelt sich um gute Musik. Nur bedeutet dies nicht, daß diese Songs
auch zu "Chess" passen, was sie nicht wirklich tun.
Regisseur
Philipp KOCHHEIM hat sich Mühe gegeben, die Illusion zu erzeugen, es fänden
tatsächlich gerade Schachweltmeisterschaften im Theater Lüneburg statt,
indem die Kontrahenten vor Beginn der Vorstellung durch das Foyer auftreten,
dort in der Pause Autogramme geben, die Presse anwesend ist, etc. Auch
das Programmheft deutet lediglich auf der letzten Seite daraufhin, daß
es sich um ein Theaterprogramm handelt; es zeigt Porträts von realen Schachgroßmeistern
vermischt mit den handelnden Personen.
Problematisch
an diesem Ansatz ist allerdings, daß das Stück aufgrund seines Themas
doch an eine bestimmte Zeit gebunden ist, nämlich die des Kalten Krieges.
Auch in Bühnenbild (Barbara BLOCH) und Kostümen (Sabine MEINHARDT) fühlt
man sich größtenteils doch eher in die Gegenwart versetzt.
Schwerer
noch als dies fällt allerdings ins Gewicht, daß es dem Regisseur nicht
wirklich gelungen ist, wirklich Beziehungen zwischen den Figuren zu zeigen.
Wenn Florence und Anatoly in ihrem Duett zunächst in zwei Monologen nebeneinander
hersingen und erst danach einen Dialog beginnen, ist diese Szene verschenkt.
Auch kommt die Liebesbeziehung doch sehr plötzlich. Was eigentlich Florence
und Freddy verbindet, wird auch nicht wirklich deutlich. Die Zeichnung
von Molokovs beiden uniformierten Begleitern biegt sich geradezu unter
den verwendeten Klischees.
Die
musikalische Seite hingegen ist als uneingeschränkt positiv anzusehen.
Man kann gar nicht sagen, wem die Krone hier gebührt. Elisabeth SIKORA
als Florence zeigte die richtige Mischung aus Karrierefrau und verletzlichem
Wesen; daß sie sich in ihrem ersten Solo noch etwas gebremst zeigte, tat
einer tollen Leistung keinen Abbruch. Anne HOTH als Svetlana stand ihr
in nichts nach als jemand, die bereit ist, auch mit extremen Mitteln um
ihre Ehe zu kämpfen.
Gerd
ACHILLES (Anatoly) und Henrik WAGER (Freddy) waren gleichwertige Rivalen
um den Meistertitel und Florence. Während Wager es immer wieder schaffte,
unter der äußeren Schale des Kotzbrockens Freddy das früh verletzte Kind
durchscheinen zu lassen und somit Mitleid zu wecken, gelang Achilles das
genaue Gegenteil. Zu Beginn als ruhiger, sympathischer Gegenpol dargestellt,
stellte er die immer stärkere Veränderung zu jemandem, dem nur noch sein
Spiel wichtig ist überzeugend dar.
Alvin
LE-BASS als Arbiter machte eine große Show und zeigte eine soulige Stimme,
mit der er unter anderem "One night in Bangkok" ganz neue Nuancen abgewinnen
konnte. Harro KORN (Molokov) hatte all die tiefen Stimme und die düstere
Ausstrahlung für diese Betonkopf-Rolle. Friedrich von MANSBERG war ein
präsenter Walter de Courcey, auch wenn man sich des Eindrucks nicht erwehren
konnte, daß der Regisseur mit dieser Rolle nun gar nichts anfangen konnte.
Die
LÜNEBURGER SINFONIKER unter der Leitung von Nezih SECKIN spielten makellos
und ließen zudem noch einige hübsche Ideen hören wie den an Jimi Hendricks
erinnernden E-Gitarren-Einsatz in "Anthem".
Der
HAUS- und EXTRA-CHOR (Leitung Deborah COOMBE) war durch das Entfallen
von "Merano" nicht übermäßig gefordert, war jedoch den verbliebenen Aufgaben
jederzeit gewachsen.
Es
war somit ein mehr als zwiespältiger Abend. MK
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