"Les
Misérables" von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg ist spätestens
seit der Fernsehübertragung des Konzerts zum zehnjährigen London-Jubiläum
ein Begriff (wer selbiges verpaßt hat dem sei die dazugehörige CD, oder
besser noch die DVD empfohlen.). Uraufführung des ursprünglich in französischer
Sprache geschriebenen Musicals war 1980 in Paris. In der derzeitigen Fassung
hatte es 1985 in London Premiere. Die Melodien sind eingängig, aber stets
mit der Stimmung entsprechenden Farbe versehen, und ziehen sich z.T. als
roter Faden durch das gesamte Stück. Leitmotivtechnisch beinahe im wagnerianischen
Sinne. Ich liebe dieses Stück!
Victor
Hugos "Die Elenden" als Musical, geht denn das? Es geht sehr gut. Man
sollte aber nicht vergessen, daß das Genre Musical der Unterhaltung dient,
und man schwerlich Sozialkritik a la Hugo erwarten kann. Zudem wurde die
Handlung sehr komprimiert, so daß eine Kenntnis der Romanhandlung hilfreich
ist.
In
Deutschland machte das Musical bisher u.a. in Duisburg und Berlin Station
und ist nun eben am Theater Lüneburg zu sehen. Die Lüneburger Musicalproduktionen
sind legendär - und meistens ausverkauft. Gesungen wird auch diesmal auf
deutsch mit Gesangstexten von Herbert Kretzmer und in der Übersetzung
von Heinz Rudolf Kunze. Ein bißchen gewöhnungsbedürftig, aber meist auf
die Musik passend. Die Musicalfangemeinde in Lüneburg ist recht groß,
und entsprechend wurde die Aufführung gefeiert.
Alexander
DI CAPRI als Jean Valjean hat die Begeisterung und den Applaus verdient.
Sein Valjean ist erfreulich wenig pathetisch und gesanglich fast mustergültig.
Leider neigt der Sänger zum unschönen Aufreißen der Stimme in den hohen
Lagen. Eine unnötige Eigenart, verfügt er doch über eine angenehm dunkeltimbrierte,
facettenreiche Stimme, die Vorurteile über Sangeskünste im Musicalgenre
Schweigen macht. Am besuchten Abend hatte er leider mit Schwierigkeiten
wie z.B. einem Kieksen zu kämpfen, die allerdings der Abendform geschuldet
gewesen sein dürften.
Erstklassig
war die darstellerische Seite. Man bekam in gut drei Stunden die glaubhafte
Entwicklung eines Menschen vom Ex-Sträfling, der jeden Glauben verloren
hat, zum akzeptierten Mitglied der Gesellschaft zu sehen. Auch Valjeans
Besessenheit, Gutes zu tun, und die ständige unterschwellige Angst, am
Ende doch von der Vergangenheit eingeholt zu werden, wurden gut eingebracht.
Die
Frage nach Valjean oder Javert läßt sich für mich aber dann doch nur mit
"Javert" beantworten. Das liegt teils an der Figur, die schon beim Lesen
und in sämtlichen Filmen mein Favorit war, aber eben besonders an Ulrich
KRATZ, der mit dieser Partie einen weiteren Stern auf seine lange Repertoireliste
heften kann.
Seine
musikalische Vielseitigkeit ist an dieser Stelle schon häufig gerühmt
worden. Sie ist neben der Fähigkeit, jedem Charakter, ob tragisch, komisch
oder erzböse, die passende Interpretation zu geben, und der Freude an
der Arbeit, die er stets auf der Bühne ausstrahlt, das Kapital des Baritons.
Auch die Javert-Partie mit den kurzen pointierten Gesangsparts liegt ihm
hörbar gut in der Kehle, und seine Version von "Stars" geht dem Zuhörer
ebenso zu Herzen wie die Szene vor dem Selbstmord der Figur.
Bei
zwei so spiel- und sangesstarken Herren hätte die Damen es eigentlich
schwer haben müssen, doch Fantine (Petra WEIDENBACH) und Cosette (Valerie
LINK) behaupteten sich ausgezeichnet. Beide Figuren stehen für das unverrückbar
Positive. Trotzdem gelang es beiden Sängerinnen, jeweils nicht in zuckersüßen
Musicalkitsch abzugleiten, sondern berührende Interpretation zu bieten.
Nummer
eins bei der weiblichen Besetzung war allerdings Stephanie STURM, die
nicht nur eine schöne Stimme besitzt, sondern ihre stimmlichen Möglichkeiten
meisterlich für die Gestaltung von Eponine einsetzt.
Bei
soviel Frauenpower bleibt Marius nur, sich in sein Schicksal zu fügen.
Kristian LUCAS tat dies allerdings mit einer gefälligen Stimme und war
dabei so knuffig, daß man die Nachsicht seiner Barrikadenkollegen über
diesen Schwärmer rasch teilte.
Uwe
SALZMANN und Kirsten PRATT sind die ideale Besetzung für die Thénardiers.
Beiden zeigten die richtige Mischung an musikalischem Können und der Fähigkeit,
extreme Charaktere darzustellen, ohne zu übertreiben - und waren urkomisch.
Die
Studenten des ABC-Cafes, angeführt von Olaf PASCHNER als Enjolras, zeigen
ein großes Plus dieser Produktion: die bis in die kleinste Rolle ausgezeichnete
Besetzung. Oliver HENNES (Combeferre), Wlodzimierz WROBEL (Feuilly), Marcus
BILLEN (Courfeyrac). Thomas HEINRICHS (Joly), Ferdinand STEINHÖFEL (Grantaire),
Giovanni MANCONI (Prouvaire) und Michael OTTO (Lesgles) waren allesamt
einfach toll. Und ehrlich, Jungs, schöner ist "Trinkt mit mir" wahrscheinlich
nie gesungen worden… Ferdinand Steinhöfel (auch als Vorarbeiter und Bamatabois
zu sehen) macht zudem besonders in der kurzen Szene als Bischof von Digne
musikalisch eine hervorragende Figur.
Leider
konnte ich bisher nicht herausfinden, wie die Rollen der kleinen Cosette
und von Gavroche besetzt waren. Sie machten ihre Sache aber genauso gut
wie ihre erwachsenen Kollegen.
HAUS-
und EXTRACHOR (Leitung: Deborah COOMBE) waren bestens disponiert und trugen
einen wesentlichen Teil zum positiven Gesamteindruck des Abends bei.
Die
LÜNEBURGER SINFONIKER stellten unter der Leitung von Urs-Michael THEUS
ihre Vielseitigkeit unter Beweis. Es gehen halt nicht nur Verdi, Mozart,
Beethoven etc., sondern man kann aus dem Orchestergraben dieses kleinen
Theaters auch eine ausnehmend gute Musicalinterpretation dem Publikum
zu Gehör bringen.
Helga
WOLF hat mit ihrer exzellenten Inszenierung den richtigen Rahmen geschaffen.
Nichts ist dem Zufall überlassen. Alles paßt, und es gibt häufig kleine
Nebenschauplätze, über die man sich z.B. im Wirtshaus der Thenadiers königlich
amüsieren kann. Dazu kommt eine ausgezeichnete Personenführung. Jede Rolle,
und sei sie noch so klein, jeder Chorist scheint, direkt aus Hugos Buch
entstiegen, seine eigene Geschichte zu haben.
Das
Bühnenbild (Barbara BLOCH) kommt mit wenigen Elementen aus, ohne ärmlich
zu wirken. Die Umbauten werden auf offener Bühne vollzogen. Sie sind einfach
Teil der Handlung. Die Kostüme von Sabine MEINHARDT passen zu Geschichte
und Zeit - und mit einer kurzzeitigen Ausnahme auch zu den Sängern.
Mein
Tip: Versuchen, Karten für eine der in dieser Spielzeit zum Glück noch
zahlreichen Aufführungen zu bekommen und dann ab nach Lüneburg! AHS
P.S.
Einziger Nachteil ist, daß die Vorstellungen um 20:00 Uhr beginnen und
damit erst gegen 23:10 Uhr aus sind. Der Zug gen Hamburg um 23:24 Uhr
ist so schwer zu erreichen. Der letzte Zug, ein ICE, geht um 23:37 Uhr.
Es ist eigentlich albern, die Strecke Lüneburg - Hamburg im ICE zurückzulegen.
Und auch zu teuer...
P.P.S
Ja, und WFS gebührt der Ruhm.
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