Erlösung
oder nicht? Dieser Frage hat sich das Theater Lübeck mit der aktuellen
Opernpremiere(n) verschrieben und dazu Luigi Dallapiccolas "Il prigioniero"
und Giacomo Puccinis "Suor Angelica" als Doppelabend auf die Bühne gebracht.
Unter
Leitung von Andreas WOLF zeigte sich das PHILHARMONISCHE ORCHESTER hervorragend
disponiert. Der Erste Kapellmeister ist ein wahrer Glücksgriff für das
Haus.Ob Dallapiccola, ob Puccini - beiden Opern wurden angemessen und
engagiert gespielt; beiden Musikstilen die gleiche Professionalität und
Spielfreude entgegengebracht.
Man
hörte Orchesterwucht, wo es angemessen war, doch nie geriet der Klang
zu laut. Die musikalische Feinheit der ruhigen Momente ging nie verloren.
Es war einer der ganz großen Abende des Lübecker Orchesters.
Für
die Titelrolle in "Il prigioniero" braucht es einen Bariton, der sowohl
die stimmlich als auch in der Darstellung überzeugt. Kein Zweifel, daß
Gerard QUINN das kann, und doch sah und hörte man jenes Quentchen mehr,
das die Professionalität diesem Sänger stets gebietet.
Hoffnung,
Verzweiflung, Unglauben und Freiheitswunsch - all das findet seine perfekte
Entsprechung in Stimme wie Spiel. Ist er entdeckt? Hat der Gefangene sein
Ziel erreicht? Die Oper wird zum Kammerspiel, und das Rollenporträt kann
man sich gelungener nicht vorstellen.
Richard
ROBERTS war der Partie des Kerkermeisters gewachsen. Hier konnte er auch
in der Darstellung überzeugen. Als Großinquisitor glückte ihm das nicht.
Grandios
waren Hjongseok LEE und Seokhoon MOON als Priester. Sowohl mit Snack und
Getränk bewaffnet über die Bühne wandernd, als auch stimmlich nutzten
sie ihre kurzen Auftritte zur Profilierung.
Verbindend
von der Sängerseite wirkte Carla FILIPCIC HOLM, die sowohl die Mutter
in "Il prigioniero", als auch die Schwester Angelica sang. Man könnte
dieser Sängerin stundenlang zuhören und wäre wohl keine einzige Sekunde
gelangweilt. Hier hörte man kein stumpfes sich rein auf die Stimmkraft
Verlassen, sondern erhielt zwei musikalisch ausgesprochen komplexe Rollenporträts,
die in jedem Augenblick vollkommen glaubwürdig waren.
Die
Themen Mutterliebe und Verzweiflung sind zwar zentral für beide Opern,
doch die Sängerin vermochte es, beiden Charakteren jeweils eine ganz eigene
Persönlichkeit zu geben. Im ersten Teil war sie die nicht mehr junge Frau,
die den bevorstehenden Tod ihres Sohnes ahnt und ihn nicht zu verhindern
weiß. Im zweiten Teil sang und spielte sie glaubhaft die wesentlich jüngere
Figur, die am Tod ihres Kindes zerbricht.
Für
die Fürstin wünscht man sich allgemein eine Darstellerin, die Grandezza
und gern auch ein bißchen Boshaftigkeit atmet. Romina BOSCOLO ließ sowohl
das Eine, als auch das Andere vermissen. Zum Teil war dies sicher der
Inszenierung geschuldet, die aus der Grande Dame eine kühle Geschäftsfrau
machte. Stimmlich konnte die Sängerin primär in den tieferen Lagen überzeugen.
Die
Präsenz, die man bei Angelicas Tante vermißte, brachte Wioletta HEBROWSKA
als Äbtissin und Schwester Mahnerin auf die Bühne. Auch hier überwog zwar
die Geschäftsmäßigkeit der Figur, doch der Sängerin gelang es besser,
ihren Figuren bzw. der Figur, zu der ihre beiden Rollen verschmolzen,
die passende Charakterisierung zu geben.
In
den weiteren Rollen hörte man Inga SCHÄFER (Lehrmeisterin der Novizen),Andrea
STADEL (Schwester Genoveva), Andrea ALEXANDER (Schwester Osmina), Anna
HERBST(Schwester Dolcina, Novizin), Annette HÖRLE (Die Schwester Pflegerin),
Frauke BECKER und Simone TSCHÖKE(Bettelschwestern, Laienschwestern) sowie
Britta HADELER (Schwester Lucilla).
CHOR
und EXTRACHOR des Theater Lübeck (Leitung: Joseph FEIGL) waren beiden
Musikstilen hervorragend gewachsen und boten - in "Suor Angelica" gemeinsam
mit dem Kinder- und Jugendchor VOCALINO (Gudrun SCHRÖDER) - wieder den
gewohnt klangstarken und harmonischen Chorgesang.
Die
starke musikalische Interpretation und die großartigen Sängerleistungen
allein machten beide Teile des Abends zu einem wirklichen Erlebnis.
Leider
konnte die Inszenierung nur bedingt mithalten. Flucht und Erlösung sollen
die zentralen Themen sein; so kann man es im Programmheft lesen.
Gelang
es Pascale-Sabine CHEVROTON im ersten Teil des Abends noch, die bedrückende
Enge und die aufkeimende, schlußendlich aber vergebliche Hoffnung gut
zu transportieren, so ging ihr Konzept für das Drama im zweiten Teil nicht
auf.
Statt
in einem Kloster lebt Angelica in einer nicht näher bezeichneten "Gemeinschaft
von Frauen". Weshalb dort so strenge Regeln herrschen, oder wo genau sich
diese Gemeinschaft befindet (Containerschiff? Hafenterminal?), wird nicht
erklärt (praktischerweise hat man in der Handlungsbeschreibung des Programmhefts
alle und aus den Übertiteln fast alle Bezüge auf den eigentlichen Spielort
von Puccinis Einakter gestrichen). Und was hat es mit den Puppen auf sich,
die die Frauen fertigen?
Leider
entzieht die zeitlich-räumliche Verlegung der Oper die eigentliche Bestimmung.
Es ist, als wäre dem Stück die szenische Seele genommen. Da es der Regisseurin
auch nicht gelungen ist, die Beziehungen der einzelnen Figuren mit in
die neue Umgebung zu transportieren, verpuffte der psychologische Effekt
im wirren Durcheinander der nun rahmenlosen Handlung. Weshalb ist Angelica
durch die uneheliche Geburt ihres Kindes überhaupt stigmatisiert? Da die
beschriebene Gesellschaft nicht erkennbar ist, bleibt diese zentrale Frage
wie so viele andere offen.
Die
Schlußszene geriet hier zum kitschigen Intermezzo der Glückseligkeit.
Angelica und ihr Sohn wandeln glücklich vereint zwischen sich ebenfalls
wiederfindenden anderen Menschen umher. Man
kann über die Erlösung Angelicas geteilter Meinung sein, aber das war
schlicht szenischer Nonsens.
Der
erste Teil ist, wie bereits erwähnt, besser geglückt. Allein der Schlußeffekt
(Kerkermeister gleicht/ist Großinquisitor) verpuffte hoffnungslos in der
unkoordiniert wirkenden Massenszene.
Zu
verdanken ist die berührende Wirkung dieser Dallapiccola-Produktion u.a.
auch dem Bühnenbild von Jürgen KIRNER.
Die
Hölle ist ein 20'-Container, und solche fanden sich dann denn auch ausreichend
auf der Bühne. Übereinander gestapelt, ergaben sie den Bühnenhintergrund,
ließen Raum für den vermeintlichen Fluchtweg und boten mit den beiden
je nach Lichteinfall transparenten Elementen effektvolle Möglichkeiten
für die Chorauftritte.
Auch
die Zelle des Gefangenen ist ein Container. Dieser wurde auf seine Stirnseite
gestellt und kann heraufgefahren und wieder absenkt werden, gerade so
wie es dem Kerkermeister beliebt. Dies bringt interessante räumliche Effekte,
war allerdings der Sicht auf das komplette Geschehen aus dem Rang teilweise
leider etwas abträglich.
Tanja
LIEBERMANNs Kostüme zeigten sich in beiden Teilen erschreckend lieblos.
Alles wirkte wie eben mal aus dem Fundus unter dem Motto "was paßt, wird
genommen" zusammengestellt. Die Gemeinschaft der Frauen wird durch gleiche,
schwarze Schuhe mit weißen Sohlen manifestiert. Nun ja.
Die
Lichtregie von Benedikt KREUTZMANN kam besonders im ersten Teil des Abends
zum Tragen. Hier erlebte man ausgesprochen gut gelungene Effekte und variantenreiche
Möglichkeiten der Raumgestaltung.
Es
ist erfreulich, daß sich das Theater Lübeck auch in der aktuellen Spielzeit
wieder den eher selten gespielten Werken widmet. Dem
Publikum bieten sich so neue Live-Hörerfahrungen und andere musikalische
Sichtweisen. Hoffentlich bleibt das auch in Zukunft so und wird vom Publikum
weiter entsprechend goutiert. AHS
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