Es
war das erste Operndirigat des neuen Generalmusikdirektors Ryusuke NUMAJIRI
in Lübeck seit Amtsantritt. Irritierenderweise klang es teilweise schlecht
geprobt, es kam ständig zum Auseinanderdriften von Graben und Bühne, das
PHILHARMONISCHE ORCHESTER war immer laut, unter mezzoforte schien es keine
dynamische Abstufung mehr zu geben, und die Wahl der Tempi erschien wenig
durchdacht, zumal diese unvermittelt angezogen oder verlangsamt wurden,
ohne daß sich der Grund erschloß. Daß das Orchester dabei weitgehend fehlerfrei
blieb, ist immerhin positiv zu vermerken.
Es
war zu begrüßen, daß der vieraktigen italienischen Version das Duett Philipp/Carlos
an Posas Leiche hinzugefügt wurde. Unverzeihlich ist allerdings der musikalische
Eingriff am Ende des Schleierliedes, der offenbar erfolgte, um einen höchst
sinnlosen szenischen Gag einarbeiten zu können (der übrigens auch möglich
gewesen wäre, wenn man die Arie normal zuende gespielt hätte).
Sandra
LEUPOLD sitzt, wie in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Regisseuren,
dem Irrtum auf, daß man den historischen psychisch kranken Don Carlos
auf die Bühne stellen soll. Nur hat das weder bei Schiller noch bei Verdi
jemals funktioniert. Bei Leupold wird das Ganze noch darauf erweitert,
daß sowohl Carlos als auch Posa und Philipp offenbar an einer posttraumatischen
Belastungsstörung leiden. Worauf die jeweils gründet, wird nicht weiter
erklärt.
Das
Einheitsbühnenbild (Stefan HEINRICHS) bestand aus drei die Bühne umschließenden
grauen Wänden ohne Türen. In der Mitte befand sich ein Viereck, welches
von Gittern umfaßt war. An der Vorder- und Hinterseite des Vierecks gibt
es je einen Graben, welcher an den vier Ecken zu schmalen Treppen führt,
über die sämtliche Sänger, Chor und Statisterie von unten auf- und abtreten
müssen, was bei einer sehr personenstarken Oper nicht gerade förderlich
ist. Kollege WFS fühlte sich nicht ganz zu Unrecht an eine Wassertretanlage
à la Kneipp erinnert. Die Kostüme (Jessica ROCKSTROH) sind mit einer Ausnahme
auffallend unkleidsam. Warum außer Philipp alle anderen Hauptrollen rothaarig
sind, gibt Rätsel auf.
Carlos
ist ein psychisches Wrack, welches ständig irgendwo zusammengekrümmt sitzt
oder liegt, wenn er nicht gerade eine manische Phase hat. Dann klettert
er auf eines der Gitter, um darauf zu balancieren. Posa leidet unter Migräne
und reißt sich, wenn er erregt ist, die rote Perrücke vom Kopf oder zündet
sich eine Zigarette an. Warum der Marquis meint, daß Psycho-Carlos in
Flandern, wo er selbst offenbar sein PTSB erworben hat, gut aufgehoben
sein könnte, weiß er vermutlich auch nicht. Ständig wuseln Chor und Statisterie
im Hintergrund herum, auch bei Szenen, die nun wirklich keine Zeugen haben
dürften. Im Garten der Königin muß Eboli das Viereck mehrfach umkreisen;
ob ihre Gage wohl von der Rundenzahl abhängt? Gleichzeitig reißen zwei
Schergen im Hintergrund schwarze Klebestreifen von einer Rolle und befestigen
sie an der Rückwand, was höllischen Lärm verursacht und von der Musik
ablenkt, dafür im weiteren Verlauf auch sinnlos ist.
Im
Autodafé werden die Ketzer nackt ausgezogen, mit Farbe bemalt und dann
in den brennenden vorderen Graben gestoßen. Carlos baut das etwa dreißig
Zentimeter lange Schild, das wohl die Fahne der flanderschen Deputierten
darstellen soll, auseinander und bedroht mit dem etwa halb so langen Griff
seinen Vater. Immerhin nimmt dieser davon Abstand, den Griff zu benutzen,
um Posa zum Herzog zu schlagen. Während Philipps Arie läuft Eboli weiter
planlos über die Bühne und zieht vorsorglich schon einmal ihren Schlüpfer
unter dem Kleid aus. Natürlich stellt sich der Großinquisitor dann prompt
auf die herumliegende Unterhose. Wenn Elisabeth in Ohnmacht fällt, geht
sie noch brav zur Treppe des "Kneippganges", damit sie im Quartett wie
die anderen drei auf einer der Stufen sitzen kann, so daß nur die Köpfe
und Schultern herausschauen. Nach Posas Tod zerren Philipp und Carlos
an Posas Leiche herum, bis das unfreiwillig komisch wird. Am Schluß robben
Philipp und der Großinquisitor auf die Bühne. Das Warum ist zu diesem
Zeitpunkt auch schon völlig egal.
Ich
habe seit langem keinen solch einhelligen und alles andere als unberechtigten
Buh-Orkan für ein Produktionsteam gehört wie am Ende dieser Premiere.
Die
Qualität der Übertitel kann wahrscheinlich außerhalb des Parketts kaum
jemand beurteilen, da für die Rangplätze direkt vor der Übertitelungsanlage
mehrere große Scheinwerfer hingen (Licht: Falk HAMPEL). Zahllose Zuschauer
wechselten mitten in der Vorstellung ihre Plätze, um einen Blick darauf
werfen zu können, was wiederum erhebliche Unruhe verursachte.
Völlig
in der Regie ging Yoonki BAEK als Carlos auf. Genau das stellte sich jedoch
als Problem dar. Das Singen in gekümmten Körperhaltungen trägt nicht zu
guter stimmlicher Leistung bei, und diverse halsige oder angestrengte
Töne trübten den Eindruck noch mehr. Die Stimme sprach an diesem Abend
hauptsächlich in der Tiefe an, wenn der Sänger tatsächlich einmal gerade
stehen durfte, dann klang sie sogar erfreulich, in den anderen Lagen wurde
sie dann eng und wenig attraktiv. Und das regiebedingte ständige Gezappel
schien nicht nur den Zuschauer, sondern auch den Tenor vom Gesang abzulenken.
Sanja
ANASTASIA bemühte sich um die Eboli, doch zu einer guten Leistung fehlte
hier noch einiges. Den Koloraturen des Schleierliedes blieb sie einiges
schuldig, und wenn sich meine Gedanken bei "O don fatale" damit beschäftigten,
daß es vielleicht besser wäre, vor dem Gang ins Kloster den Slip wieder
anzuziehen, spricht das nicht für eine fesselnde Darstellung. Daß man
ihr ein Auge mittels eines häßlichen Heftpflasters verklebt hatte und
sie am Ende in einem sehr ungünstig geschnittenen Unterkleid herumlaufen
mußte, war nicht ihre Schuld, trug aber auch nicht zur Glaubwürdigkeit
der Figur bei.
Daß
der Abend kein kompetter Reinfall wurde, war der weiteren erstklassigen
Besetzung geschuldet.
Shavleg
ARMASI kam als ungewohnt jugendlicher und attraktiver Philipp auf die
Bühne, mit dem einzigen wirklich kleidsamen Kostüm der Produktion ausgestattet,
und zog sofort in seinen Bann. Die Stimme strahlt unglaubliche Autorität
aus, besticht in jeder Lage durch ihre Qualität, und von der ersten Phrase
an konnte man allein durch einen Wechsel einer Nuance jederzeit Philipps
Stimmung erahnen. Zudem war die Textbehandlung absolut vorbildlich und
sehr durchdacht. Warum Elisabeth sich statt ihrem Mann einem Kerl zuwenden
sollte, für den man maximal Mitleid aufbringen kann, ist vollkommen unverständlich.
Eine Wiederbegegnung mit dem Baß in anderen Rollen ist dringend erwünscht.
"Don
Carlos" in Lübeck ist, wenn Gerard QUINN als Posa den letzten Akt auf
der Bühne herumliegt. Dieses Schicksal muß Bariton nun schon in der zweiten
Produktion ertragen. Doch zuvor bot er eine gloriose Leistung. Kaum hatte
er die Bühne betreten und die ersten Töne gesungen, da wußte man, Verdi
findet an diesem Abend doch noch statt. In jeder Sekunde präsent, mit
unendlich langen Bögen in der Kavantine, starker Attacke im Duett mit
Philipp und schließlich ein fürchterlich tränentreibender Tod ohne jede
Übertreibung mit schöner Phrasierung und piani versehen, siegte er über
den szenischen Unsinn.
Carla
FILIPCIC HOLM war mit einem Outfit (Kleid, Frisur und Maske) gestraft,
das wirkte, als sei Elisabeth nicht die (gleichaltrige) Stiefmutter von
Carlos, sondern seine Oma. Da die Sängerin selbst eine attraktive Frau
ist, stellt sich die Frage, was hiermit beabsichtigt gewesen sein mag.
Gesanglich bot sie wunderbar ausgesungene Bögen mit apart timbrierter
Stimme. Daß man ihr die zweite Strophe des Abschiedes von der Gräfin Aremberg
gestrichen hatte, war nur zu bedauern. Warum einer so starken Elisabeth
damit die Möglichkeit gestohlen wurde, Philipp zu beschämen - denn genau
darum geht es in dieser zweiten Strophe - bleibt wie so vieles das Geheimnis
des Leitungsteams.
Auch
Taras KONOSHCHENKO war als Großinquisitor mit einem Kostüm geschlagen,
was sich aus einem Unterkleid, das verdächtige Ähnlichkeit mit einer Tüllgardine
aufwies, einem violetten Überwurf und einer roten Kappe zusammensetzte,
wobei sich letztere farblich bissen (ist der Großinquisitor nicht in der
Lage, sich zu entscheiden, ob er Kardinal oder Bischof sein will, oder
hat er ob seiner Blindheit einfach morgens planlos in den Schrank gegriffen?).
Dazu kamen Perrücke und Bart, die auch noch im dritten Rang laut "angeklebt"
zu schreien schienen. Das neue Ensemblemitglied konnte im Duett mit dem
Über-Philipp Armasi gut mithalten und verströmte viele wunderbar anzuhörende
Baßtöne. Mit etwas mehr Erfahrung wird sicherlich noch das letzte Quentchen
Gefährlichkeit hinzukommen.
Von
Kon Seok CHOI als extrem wohlklingendem Mönch hätte man gerne mehr gehört.
Da er jedoch persönlich nicht auftreten durfte, sondern irgendwo ungünstig
aus dem Off tönte, war die Balance zwischen Stimme und dem überlauten
Orchester nicht ausreichend gegeben. Eine andere Plazierung wäre dringend
erforderlich.
Leonor
AMARAL war ein sehr guter Tebaldo, Evmorfia METAXAKI mußte ihren Stimme
vom Himmel-Auftritt über der Bühne hängend als Marienerscheinung absolvieren,
was ihrer guten stimmlichen Leistung keinen Abbruch tat, und Jonghoon
YOU konnte sich als Lerma profilieren.
Zu
den Positiva sind zudem noch der CHOR und EXTRACHOR zu zählen. So stimmschön
und -stark war es ein Genuß zuzuhören, zumal die Damen und Herren unter
der Leitung von Joseph FEIGL sich bei den beschriebenen Wacklern zwischen
Graben und Bühne immer sofort wieder fingen. Die flanderschen Deputierten
(Yannick DEBUS, Karsten GEBBERT, Anton KREBBER, Simeon NACHTSHEIM, Ronaldo
STEINER und Changhui TAN) habe ich selten in einer Produktion so gut gehört.
MK
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