Noch
einmal, zum - hoffentlich nicht - letzten Mal gab es am Saisonende den
in vier Jahren gewachsenen "Ring" komplett an zwei Wochenenden, ein Unterfangen,
das auch schon mal Besucher aus Süddeutschland extra anreisen läßt, hat
diese Produktion sich doch einen Ruf erworben, der weit über das lokale
Umfeld hinausreicht, weil sie jegliches "Stadttheaterniveau" weit hinter
sich läßt und auch im Vergleich mit der großen Konkurrenz bestehen kann;
so habe ich z.B. unter den vielen bekannten Gesichtern im Publikum aus
Hamburg noch niemanden getroffen, der die Lübecker Aufführungen nicht
der zeitgleich entstandenen Hamburger Variante vorgezogen hätte - und
zwar szenisch UND musikalisch!
Sicher,
man hat keine "großen" Namen zur Verfügung und manche der Lübecker Sänger
würden die Partien am Hamburger Haus aus Gründen des Stimmvolumens (nicht
wegen mangelnden Könnens) nicht singen können; und beim Orchester ist
man grundsätzlich zum Kompromiß gezwungen, weil infolge der Möglichkeiten
die Bearbeitung von Gotthold Ephraim Lessing gespielt werden muß (der
von 1903-1975 lebende Namensvetter des großen Dichters und Denkers war
Dirigent an diversen kleinen Theatern, u. a. auch in Lübeck). Aber WIE
man die spielt ist aller Ehren wert, auch wenn es das ein oder andere
Balanceproblem gibt, weil Lübeck eben nicht über den großen Streicherapparat
verfügt und im Blech ab und an etwas daneben geht (wobei man sich in bester
Gesellschaft mit erheblich höher bezahlten Kollegen anderweitig befindet).
Aber selbst dort bleibt jederzeit die Spannung erhalten. Roman BROGLI-SACHER
ist im Großen und Ganzen ein Freund zügiger Tempi und auf den dramatischen
Akzent hin aufgebauter Zuspitzung, aber besonders im 1. Akt der "Walküre"
kostete er auch die Lyrik auf, ließ die Streicher blühen und das Orchester
demonstrieren, wie schön so manches Solo sein kann, wenn es mit der nötigen
Ruhe ausphrasiert wird.
Gesungen
wurde durchweg gut, wobei es schon erstaunlich war, wie viele Partien
die Lübecker aus dem eigenen Ensemble heraus besetzen können ohne sich
dabei vor den natürlich vorhandenen Gästen (kein Haus schafft heutzutage
einen "Ring" allein) verstecken zu müssen.
Einen
"Star" - wenn man so will - gibt es trotzdem, nämlich Rebecca TEEM, die
seit ihrem zwar höhensicheren, aber doch etwas kleinstimmigen Debüt als
"Walküren"-Brünnhilde 2008 eine enorme Entwicklung gemacht hat hin zu
einem in allen Lagen durchschlagskräftigen, ohne Schärfen auskommenden
und offenbar völlig ermüdungsresistenten Organ, das auch nach vier Stunden
"Götterdämmerung" noch mühelos das Orchester übertönt ohne dabei in reine
Kraftmeierei zu verfallen; jederzeit wird beherrscht gesungen und zudem
glänzend phrasiert. Da sie obendrein auch noch höchst intensiv spielt,
bleibt da wirklich kein Wunsch offen.
Kräftig
entwickelt hat sich auch Stefan HEIDEMANN, der vom Kavaliersbariton, der
den "Walküren"-Wotan schaffte, weil er singen konnte zum echten Heldenbariton
geworden ist. Leider ging dieser Gewinn an Volumen und dunkel-metallischem
Klang im "Rheingold" auf Kosten sowohl der dynamischen Differenzierung
als auch der Diktion; da war selbst in der 1. Reihe mitunter wenig Text
zu verstehen. In der "Walküre" wirkte er dann wie ausgewechselt und gestaltete
glänzend ohne da, wo es nottat, an Kraft einzubüßen. Und als Wanderer
bewegte er sich auf dieser Linie weiter, die Erda-Szene im 3. Akt war
- zusammen mit der mit schier endlosem Atem versehenen Ulrike SCHNEIDER
- einer der ganz großen Höhepunkte.
Der
Siegfried war wie immer geteilt worden. Jürgen MÜLLER klang diesmal bis
hin zu den Schmiedeliedern - bei aller Höhensicherheit - ein bißchen steif
und eng. Dafür gelang ihm ein wunderbar lyrisches Waldweben. Und im 3.
Akt packte er staunenswerte Reserven aus, die ihm zum gleichwertigen Duettpartner
für den Schluß machten; da war nichts von sparen müssen oder gar gerade
eben durchkommen zu hören wie so oft am Ende dieser Mammut-Partie.
Richard
DECKER hat als "alter" Siegfried die weichere Stimme, kein schwerer Helde
sondern lyrisch grundiert, aber mit dem nötigen Peng für die entscheidenden
Stellen. Allein beim Schwur schwächelte er ein wenig, glich das aber mit
einer höchst geschickt gesungenen Waldvogel-Erzählung und einem schön
phrasierten Tod mehr als aus.
Als
Wälsungen-Paar waren wieder Marion AMMANN und Andrew SRITHERAN zu hören;
sie mit leuchtendem Klang und mirakulöser Textbehandlung wie eh und je,
und er mit technisch gereiftem, ganz auf Linie geführten und schön dunkel
timbrierten lyrisch jugendlichen Heldentenor. Eine Klasse für sich ist
jedes Mal Antonio YANG als machtvoll auftrumpfender, die Partie aber jederzeit
singender Alberich, der genau die richtige Mitte zwischen stimmlicher
Kultur und nötiger Expression hielt. Als Bruder Mime wiederholte Patrick
BUSERT im "Rheingold" seine intelligente Variante des Geschundenen. Im
"Siegfried" hatte es in der Partie die einzige große Umbesetzung gegeben.
Der Premieren-Mime Arnold Bezuyen war durch Stuart PATTERSON ersetzt worden.
Der hatte die richtige optische Altersdifferenz zum "Rheingold" und stand
Bezuyen als quirliger Schauspieler nicht nach. Stimmlich konnte er mit
dem Bayreuther Loge, der in Lübeck ein echter Gegenpart zu Siegfried gewesen
war, freilich trotz solider Technik und guter Phrasierung nicht mithalten,
weil das Organ nicht nur buffonesker sondern auch deutlich kleiner war.
Warum man sich hier als Zweitbesetzung nicht ebenfalls für Busert (ebenfalls
ein exzellenter Darsteller und als Ensemblemitglied obendrein die billigere
Variante) entschieden hatte, ist mir nicht recht klar geworden.
Ein
bißchen problematisch ist inzwischen der Loge von John PICKERING, weil
er besonders im Passaggio fehlende Spannkraft durch Krafteinsatz auszugleichen
versucht und die Töne damit nachschiebt, anstatt sich geschickt über den
Text zu retten, was in dieser Partie ja legitim wäre (und wie es der späte
Gerhard Stolze in Vollendung konnte).
In
die Baßpartien teilten sich - abgesehen vom "Siegfried"-Fafner von Daniel
LEWIS WILLIAMS - Andreas HALLER und Gary JANKOWSKI. Im "Rheingold" war
das ein schöner Gegensatz zwischen Hallers weicher Stimmführung als Fasolt
und dem doch deutlich kantigeren Organ Jankowskis. Daß Haller auch anders
kann, demonstrierte er als höchst bedrohlicher Hunding. Und Jankowski
zeigte als Hagen, daß der Drahtzieher besonders gefährlich ist, wenn er
differenziert und mit einer gewissen Eleganz daher kommt. Beiden gemeinsam
war die total unterschiedliche Optik ihrer Rollen. Da hatte - und nicht
nur da - die Maske ganze Arbeit geleistet!
Was
man aus häufig etwas stiefmütterlich behandelten Rollen machen kann, wenn
man sie mit Vertretern des ersten Fachs besetzt zeigten Gerard QUINN als
Donner und Gunther (auch wenn die Wagner-Tessitura seinem Italienerbariton
sicher nicht entgegenkommt), Ausrine STUNDYTE als von der Regie ohnehin
aufgewertete Gutrune und vor allem Veronika WALDNER als herrlich zickige
Fricka und warmstimmige Waltraute.
Die
Inszenierung von Anthony PILAVACHI ist auch beim zum Teil dritten Sehen
von enorm detailversessenen Einfallsreichtum, modern ohne modernistisch
zu sein, mit oft überraschenden, aber fast immer logischen und zu Ende
geführten Lösungen. Nur in der "Götterdämmerung" erscheint es mir manchmal,
als habe er den ein oder anderen Faden entweder vom Ende her gedacht und
dann unbedingt einen Anfang finden müssen oder aber nicht konsequent weitergeführt,
was aber eher ein Problem schierer Ideenüberfülle zu sein scheint - allemal
besser als das Gegenteil also...
Inzwischen
ist dieser "Ring" auch auf DVD erhältlich, erschienen beim Klassik Center
Kassel, wobei man es leider - was einige technische Dinge angeht - bei
Aufnahme und Aufbereitung anscheinend mit wenig opernerfahrenen Leuten
zu tun hatte. Über die simple Aufmachung in einer Pappbox kann man hinwegsehen
(wenn man so, will ist das auch ein Unterscheidungsmerkmal zur großen
kommerziellen Konkurrenz) und Bildqualität sowie Kameraführung sind völlig
in Ordnung; inwieweit man die vielen sehr dichten Großaufnahmen der Sänger
mag, ist Geschmackssache, den ein oder anderen szenischen Zusammenhang
hätte man sicher besser verdeutlichen können, aber das ist kein wirkliches
Problem.
Ärgerlicher
ist schon das weitgehend sinnfreie Tracking, bei dem ein automatisches
Programm sich etwa alle fünfzehn Minuten eine Generalpause gesucht zu
haben scheint; das macht jeder Amateur bei der Home-DVD besser. Und vollends
unverständlich ist mir die Mikrophonaufhängung für die Sänger (jedenfalls
in der Stereo-Tonspur, die für den überwiegenden Teil der Käufer die wichtige
sein dürfte). Denn während das Orchester jederzeit präsent aus den Lautsprechern
kommt klingen die Solisten oft hallig, wie weiter hinten im Raum verloren,
ein Eindruck, der im Haus selbst so nicht gegeben war, wo die Stimmen
deutlich direkter über die Rampe kamen. Das ist schade, weil damit nicht
nur mancher Sänger, sondern die ganze Produktion stimmlich unter Wert
an den Mann gebracht wird. HK
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