Knapp
sechs Jahre nach der Uraufführung hat die erste große Oper des britischen
Komponisten Thomas Adés (geb. 1971) - für die er sich gleich an Shakespeare
als Vorlage traute - nun auch Deutschland erreicht. Nach der Frankfurter
Erstaufführung im Januar wagte sich das Lübecker Theater an ein Werk,
mit dem es - wieder einmal, und wieder einmal höchst erfolgreich - an
seine Grenzen geht; und obendrein zählbaren Erfolg damit hat, zumindest
die letzten Aufführungen waren restlos ausverkauft.
Adés
, den man stilistisch wohl am ehesten einer "Postmoderne" zurechnen kann,
die sich hemmungslos verschiedenster Stilmittel bedient (was ihr den Vorwurf
des Ekklektizismus eingetragen hat), und bei der Fragen des Klanges und
der theatralischen Wirkung eine größere Rolle spielen als musiktheoretische
Überlegungen (wobei die Briten es mit der in Deutschland so beliebten
Einordnung in "Schulen" ohnehin nicht so hatten), schreibt zwar für ein
herkömmliches Orchester und mutet den Sängern auch keine Vierteltöne oder
extremen Sprechgesang zu, aber er hatte die orchestralen Möglichkeiten
des Covent Garden und eine Schar internationaler Solisten zur Verfügung,
denen er entsprechend anspruchsvolle Aufgaben in Instrumente und Kehle
legte.
Am
deutlichsten wird dies beim Ariel, einem extrem hoch liegenden Koloratursopran,
gegen den selbst die Zerbinetta als relativ gemütliche Angelegenheit erscheint.
Wie sehr das speziell für die Fähigkeiten von Cyntha Sieden geschneidert
war, läßt sich am besten daran erkennen, daß mit Louise FRIBO erstmalig
eine andere Sängerin mit der Partie betraut wurde, eine Aufgabe, die sie
souverän meisterte. Das ist nicht nur von atemberaubender Virtuosität
in den schnellen Passagen sondern auch tonschön, und an Stellen wie dem
mit drei hohen E gespickten Lockgesang für Ferdinand von geradezu ätherischer
Lyrik.
Regisseur
Reto NICKLER scheint ein gutes Händchen für das 20. Jh. zu haben (siehe
"Elegie für junge Liebende" in Lübeck und "Moses und Aron" in Wien). Die
Idee, die Szene ganz nach vorne bis über den geschlossenen Orchestergraben
zu ziehen und die Instrumente hinter dieselbe zu setzen, erweist sich
schon rein akustisch als Glücksgriff, denn die Stimmen geraten so nie
in Gefahr, vom groß besetzten Orchester gedeckt zu werden. Interpretatorisch
scheint mir ein Satz ziemlich zum Ende hin des von Meredith Oakes geschickt
zusammengefaßten und gegenüber dem Prosa-Original in Versen abgefaßten
Librettos als Schlüssel gedient zu haben, in dem von Prosperos Insel als
"brave new world" die Rede ist. Dieses Originalzitat Shakespeares hat
Aldous Huxley für seinen 1932 erschienenen Roman, in dem es unter anderem
um gezielte Bewußtseinsveränderungen geht, als Titel benutzt. Und Nickler
läßt die Wahnvorstellungen der durch Prosperos Macht gestrandeten Truppe
nicht als reine Zaubereien, sondern als Auswirkungen gnadenloser Animateure
erscheinen, die in einer Art "Club Mediterranée" den zunächst nach dem
Motto "noch mal Glück gehabt" als ganz amüsant gesehenen Abenteuer-Urlaub
zunehmend zum Horrortrip werden lassen.
Irgendwann
halten die Gequälten sich sogar für Tiere, wobei Steffen KUBACH (Bruder
des Königs von Neapel) als Albatros nicht nur wörtlich den Vogel abschießt.
Hier zeigt einer den ganzen Abend über, was man mit nicht einmal aufregenden
stimmlichen Mitteln aus einer mittleren Partie herausholen kann. Sein
ehrgeizig verklemmter Beamter ist eine Charakterstudie ersten Grades,
mit der er den international hochgehandelten Kollegen im Londoner Video
glatt aussticht.
Gerard
QUINN trägt als Prospero einen großen Handschuh, wenn er seine Zaubereien
ausführt - und die Partie scheint seiner Stimme und Persönlichkeit wie
ein solcher zu passen. Mühelos kommen sowohl die Spitzentöne als auch
die vielen insgesamt unangenehm hoch liegenden Passagen, das warme Organ
strömt frei und ohne Druck. Nur in der Tiefe gibt es ein paar maue Momente,
die aber nicht weiter ins Gewicht fallen. Fast noch beeindruckender erscheint
allerdings die musikalische und darstellerische Autorität, die er der
vielschichtigen Rolle verleiht; gebieterischer Zauberer, liebevoller Vater
oder resignierender Mensch - alles bekommt eine Vielzahl an Farben und
dynamischen Schattierungen.
Seiner
Tochter Miranda verleiht Anne ELLERSIEK mit ihrem leichten Sopran anrührende
Züge, verträumt lyrisch in ihrer Liebe und mit genügend stimmlicher Energie,
um auch das Eintreten für diese Liebe gegenüber dem Vater glaubhaft zu
machen. Als Ferdinand hat Daniel SZEILI die eine oder andere Mühe mit
der sehr hohen Tessitura, aber er verbessert sich in jeder der insgesamt
drei besuchten Aufführungen, singt zunehmend lyrisch und ohne überflüssigen
Kraftaufwand.
Für
den Caliban gab es ungeplant zwei Besetzungen, denn der Lübecker Patrick
BUSERT erkrankte zur Unzeit. In der Premiere stand er noch als darstellerisches
Double für den singenden Christopher LEMMINGS (die Zweitbesetzung der
Uraufführung) auf der Bühne, danach mußte er einige Vorstellungen aussetzen,
um am Ende aber doch wieder fit zu sein. Lemmings, den ich am 11. April
hörte, hat zweifellos das robustere Organ. Aber er hat auch mehr Schwierigkeiten,
weil er sich die Höhenausflüge immer wieder forcierend erzwingen will.
Das mag für den ungehobelten Wilden passen, nimmt der Figur aber auch
eine Dimension. Die bekommt man von Busert geliefert, dessen im Prinzip
gar nicht so substanzreicher Tenor der Figur mittels guter Technik und
musikalischer Einfühlung in seinem manchmal fast durchscheinend wirkenden
Ton einen Anflug von Traurigkeit gibt, die sie über den simplen "Barbaren"
hinaushebt.
Als
urkomische Partner bei seinen Mordkomplettplänen erwiesen sich Szymon
CHOJNACKI und David CORDIER; ein trink- und amüsiersüchtiges Pärchen,
dem selbst jeder Pauschaltourist außerhalb der "Ballermann-Zone" wohl
nur mit Grausen begegnen würde. Die Stimmkombination Baß/Counter sorgt
natürlich noch für die zusätzliche Zuspitzung der Charaktere.
Komplettiert
wird die Tenorriege durch Andrew SRITHERAN, dessen Wagnertenor sich mit
dem König von Neapel nicht leicht tut. Aber er macht das Beste daraus,
weil er die Trauer um den verloren geglaubten Sohn intensiv zu gestalten
weiß. Und durch Patricio ARROYO, der den unrechtmäßigem Herzog von Mailand
mit sauber geführter, etwas kleiner Stimme als eloquenten Politprofi gibt,
der nicht merkt, dass ihm keiner glaubt - eine sehr heutige Figur also.
Als sympathischen Gegenentwurf gibt Andreas HALLER mit profundem, nicht
immer ganz intonationssicheren Baß den weisen, menschenfreundlichen Ratsherren
Gonzalo.
Ganz
ausgezeichnet schlagen sich die Kollektive, da wird sauber und rhythmisch
präzise gesungen und gespielt, und Philippe BACH hält das Ganze via Kopfhörer
und diversen Monitoren hervorragend zusammen. So macht moderne Oper Spaß,
das Publikum jedenfalls feierte die Künstler ausgiebig - und in der letzten
Vorstellung auch den anwesenden Komponisten, auch wenn vielleicht die
wenigsten wussten, wer der Herr im Anzug eigentlich war... HK
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