Langsam
bin ich geneigt, Alberichs Fluch in diese Richtung zu interpretieren.
Erst war Falk Struckmann in der Hamburger "Walküren"-Premiere im letzten
Herbst genötigt, sich stimmlich "doubeln" zu lassen, nun traf es mit Jürgen
MÜLLER den Titelhelden in Lübeck, der einen Tag vor der Premiere das Handtuch
werfen und sich darauf beschränken mußte, stumm auf der Bühne zu agieren,
während der herbeigeeilte Alfons EBERZ aus der Proszeniumsloge heraus
sang: voll engagiert und mit heldentenoral kraftvoller Deklamation. Wer
unter Wagnergesang auch das spinnen musikalischer Bögen versteht oder
gar lyrische Fähigkeiten für das Waldweben erwartet hatte, der dürfte
freilich weniger auf seine Kosten gekommen sein. Aber eigentlich verbieten
sich solch penible Sichtweisen in diesem Fall. Eberz leistete das unter
den Umständen mögliche und rettete damit die Premiere, wofür er vom Publikum
zu Recht gefeiert wurde. Da Jürgen Müller obendrein einen optisch überzeugenden
Jung-Siegfried gab (und die "Lippensynchronisation" hervorragend klappte),
war das Vergnügen dann doch relativ ungetrübt.
Und
ein Vergnügen war auch dieser dritte Lübecker Teil des Ringes. Um es deutlich
zu sagen: Man wird sich in Hamburg anstrengen müssen im Oktober, nicht
nur in szenischer Hinsicht. Stefan HEIDEMANNs Bariton hat seit dem "Walküren"-Debüt
einen gewaltigen Sprung gemacht. Sein erster Wanderer überraschte mit
ausladender Stimmgebung und kraftvoller, unforcierter Tiefe, ohne daß
es in der Höhe Einbußen gegeben hätte. Nur die Diktion schien mir unter
dem Gewinn an Volumen etwas undeutlicher geworden zu sein.
Ein
weiteres Rollendebüt kam vom Bayreuther Loge Arnold BEZUYEN, der zum ersten
Mal den Mime verkörperte. Er tat dies in jener Mischung aus sprachlicher
Schärfe, variablen Farben und rein stimmlichen Fähigkeiten, die beiden
Teilen des "Charaktertenors" gerecht wurde. Denn gerade der Mime will
auch gesungen sein, nicht nur wegen des hohen Hs auf "und hab nicht So'was
gesehn"; sondern auch von der Durchschlagskraft her, die sowohl gegenüber
dem Orchester als auch für das Gleichgewicht in den Auseinandersetzungen
mit Siegfried und dem Wanderer benötigt wird. In diesem Punkt mußte sich
Bezuyen wahrlich vor niemandem verstecken.
Zumindest
szenisch ein Rollendebüt war es auch für Rebecca TEEMS Brünnhilde, deren
kraftvoller Sopran einiges an Leuchtkraft und jugendlichem Schwung aufwies,
während der Text leider weitgehend auf der Strecke blieb. Das konnte man
von Antonio YANGs Alberich ganz und gar nicht behaupten, bei ihm verband
sich - wie bei Bezuyen - hervorragende Artikulation mit kluger Gestaltung
und stimmlicher Präsenz.
Profund
klang der Fafner von Daniel Lewis WILLIAMS, ein wenig knapp in den Höhen
der Waldvogel von Andrea STADEL. Ulrike SCHNEIDER überzeugte als Erda
wie schon im "Rheingold" mit riesengroßen Bögen, die im 2. Rang leider
kaum zu hören gewesen sein sollen.
Das
verwundert nicht gänzlich, denn GMD Roman BROGLI-SACHER legte sich gewaltig
ins Zeug und tat in Sachen Lautstärke des öfteren zuviel. Das war schade,
weil er bei durchgehend recht flotten - aber nie überhetzten - Tempi mit
dem wieder einmal ausgezeichnet disponierten LÜBECKER ORCHESTER dermaßen
spannungsvoll zu Werke ging, daß es eines phonmäßigen "Draufsattelns"
gar nicht bedurft hätte.
Regisseur
Anthony PILAVACHI ging den einmal eingeschlagenen Weg weiter und setzte
auf in jeder Hinsicht erfreulich unverkrampftes, unterhaltsames und dabei
keinen Moment plattes Theater. Die Ansiedlung des gesamten Stücks in "Dr.
Mimes Altersheim" erscheint zunächst einmal nicht unbedingt schlüssig,
erweist sich mit zunehmender Länge des Abends aber als konsequent durchdacht,
zeigt sie doch die totale Manipulation eines "freien" Menschen. Denn anstelle
eines Wanderns in die Welt tun sich für Siegfried nur immer neue Räume
auf (Bühnenbildner Momme RÖHRBEIN hält dabei ab dem 2. Akt die Drehbühne
ebenso in Bewegung wie die Phantasie).
Da
sitzt Alberich als alter General, der immer noch an seine Allmacht glaubt
und doch gegen den Wanderer - der als Einziger von außen kommt - beim
Schachspiel verliert, ebenso im Rollstuhl wie Erda, die am Ende der Szene
von letzterem brutal erwürgt wird. Fafner hat sich ein pompöses Schlafdomizil
errichtet, und der Waldvogel ist eine sexy Krankenschwester, die für den
gutgemachten Job vom Wanderer in schnödem Barem bezahlt wird. Der Wald
erscheint als Video an der Wand, und auch Brünnhilde findet sich letztlich
in einem der Zimmer, auf nettem Bett, ordentlich die Walkürenkleidung
am Haken und ein großes Gemälde des Göttervaters an der Wand.
Pilavachi
läßt für seine Sichtweise einiges an Textdetails sausen, und mancher Gag
erscheint überzogen (wenn z.B. aus Fafners mit Totenkopf als gefährlich
markiertem Zimmer zuerst ein als Drachen kostümierter Minihund kommt),
aber er gewinnt mit der Stringenz seiner Version der Geschichte und einer
Unmenge schöner Details. Wenn Brünnhilde sich nach dem ersten Erwachen
noch gemütlich auf die Seite dreht, "bitte noch zwei Minuten, es ist sooo
bequem", dann wird sich wohl jeder darin wiedererkennen. Und der Versuch,
Siegfried als Wotan einzukleiden, verdeutlicht die Stärke der Vater-Tochter-Bindung
in einer Weise, wie ich sie zuvor kaum gesehen hatte. Anderes ist vielleicht
weniger psychologisch, dafür in seiner Einfachheit verblüffend. Für das
Hornsolo angelt sich Siegfried den "zufällig" im Pseudowald herumlaufenden
Jäger. Und Mime hat sich am Ende des 2. Aktes in Schale geschmissen, im
Smoking mixt er an der Bar den tödlichen Drink.
Ein
"Siegfried" also voller überraschender Einfälle, den man nur wärmstens
empfehlen kann HK
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