Lübeck
hat wieder einmal die Nase vorn: während man dort Giordanos Revolutionsoper
in dieser Spielzeit szenisch auf die Bühne gebracht hat, müssen die Hamburger
bis zur nächsten Saison warten, um das Werk nach fünfundfünfzigjähriger
Bühnenabstinenz (der letzte Chenier hier war Peter Anders!) für gerade
einmal vier Aufführungen konzertant geboten zu bekommen - dafür gibt es
Raritäten wie "Aida" und "Lucia di Lammermoor" erneut szenisch, nun ja….
Die
in Hamburg dafür angekündigten Stars kann Lübeck natürlich nicht bieten.
Aber es wird zum größeren Teil trotzdem hervorragend gesungen, auch wenn
es das übliche Problem vieler Opern-Dreiecksgeschichten gibt: warum nur
will der Sopran unbedingt zusammen mit dem Tenor sterben, anstatt mit
dem Bariton weiterzuleben, obwohl der nicht nur besser singt, sondern
auch noch besser aussieht? Antonio YANG besitzt eigentlich alles, was
man für den Gerard braucht: einen kernigen, gut fokussierten Bariton von
beachtlichem Volumen, dramatische Attacke und die Fähigkeit, große Bögen
zu formen (wobei er das ein oder andere Zwischenatmen sicher noch abstellen
könnte). Dazu kommt eine ausgesprochen textbezogene Phrasierung, über
der er gleichwohl nie die Linie vernachlässigt - eine Fähigkeit, die ihn
2007 zu einem ungewöhnlich belcantesken Alberich hatte werden lassen.
Vom
Material her könnte ihm Titelheld Mario DIAZ sicherlich Paroli bieten,
aber das eigentlich angenehm baritonale Organ, das im Prinzip auch über
genügend Höhenfanfare verfügen würde, klingt aufgrund mangelhaften Stimmsitzes
praktisch permanent unter Druck; die Fortepassagen, von denen die Rolle
viele aufweist, geraten wegen der fehlenden Technik zum - zunehmend gefährdeten
- Kraftakt, bei dem er sich am Ende von "Come un bel dì di maggio" nurmehr
fast gesprochen rettet.
Als
von Beiden umworbene Maddalena di Coigny sorgte Ausrine STUNDYTE mit "La
mamma morta" für den ganz großen Höhepunkt des Nachmittags; so mühelos
großformatig in den Ausbrüchen bei gleichzeitiger Fähigkeit, die Stimme
bis ins pp wegzunehmen, und so intensiv gestalterisch hört man das auch
an großen Häusern von prominenteren Namen nicht so schnell.
Weniger
glücklich war ich mit der szenischen Seite. Sicher, Bernd Reiner KRIEGER
(von dem mir aus Schwerin noch eine sehr gute "Rusalka" in Erinnerung
ist) hat nicht gegen das Stück gearbeitet, aber leider auch keine besondere
Spannung aufkommen lassen. Die zu Beginn von der Decke herabschwebenden
Kostüme scheinen auf "Theater auf dem Theater" hinzudeuten, oder aber
auf einen Maskenball à la "ancien regime", denn einige der Herren tragen
heutige Frisuren und Brillen, und bei Gerard kommen höchst moderne Hosenträger
zum Vorschein, wenn er sich die Livree abreißt. Und das sichtbare Umziehen
von Fleville und Abbé für die Partien des Roucher bzw. L'Incroyable kann
sowohl Fortführung des Theaterspielens als auch Brandmarkung von "Wendehälsen"
in der Revolution darstellen; es bleibt letztlich unklar, da keine bis
zum Ende durchgehende Linie erkennbar wird. Schwerer wiegt für mich allerdings,
daß Krieger letztlich mehr arrangiert als inszeniert hat.
Das
mag zum Teil dem in der Art alter RAI-Videos als Rampensteher agierenden
Tenor geschuldet sein, aber es mangelt grundsätzlich an Beziehung zwischen
den Figuren. Die Begegnung Maddalena/Chenier im 2. Akt findet als Treffen
zweier Salzsäulen statt, bei dem die plötzliche Umarmung am Ende ob ihrer
Plötzlichkeit schon fast komische Züge bekommt. Und die Auseinandersetzung
Maddalena/Gerard verpufft, weil Krieger den Bariton völlig sinnlos auf
die Tribüne schickt, wo er seine Ausbrüche aus der Distanz abläßt.
Diese
Tribüne (Ausstattung Dieter KLASS) baut den ganzen dritten Akt zudem derart
zu, daß dem CHOR kaum mehr als "reinkommen - rumstehen - rausgehen" möglich
ist, was die ansonsten gut singenden Lübecker Damen und Herren in der
gelangweilt wirkenden Art bewerkstelligen, die Kollektive meist an den
Tag legen, wenn sie nicht gefordert sind. Auch in den beiden ersten Akten
ist der Chor mehr bühnenfüllende Staffage als daß er wirklich bewegt würde.
Aktion gibt es dafür ausgerechnet bei "Come un bel dì" als eigentlich
intimstem Moment der Oper, wenn den für die Guillotine Bestimmten die
ganze Arie über die Haare im Nacken abgeschnitten werden.
In
den kleineren Partien fällt vor allem Patrick BUSERT als Abbé und L'Incroyable
auf, weniger aus stimmlichen Gründen, sondern wegen seiner unglaublichen
Bühnenpräsenz, die einen geradezu anspringt. Andreas HALLER zeigt in gleich
drei Partien Wandlungsfähigkeit, wobei ihm Cheniers Dichterfreund Roucher
und der Revolutionsankläger Fouquier-Tinville deutlich besser in der Kehle
liegen als der schmachtende Poet Fleville, für den es eigentlich einen
lyrischen Bariton braucht.
Wioletta
HEBROWSKA singt sowohl die Gräfin di Coigny als auch die alte Madelon
sehr schön, ist aber schlicht viel zu jung für die Partien, die ansonsten
ja eher mit "Aufhörern" und nicht mit dem Nachwuchs besetzt werden. Hye-Sung
NA ist eine durchschlagskräftige, jugendliche Bersi, und Steffen KUBACH
verleiht dem Sansculotten Mathieu mit leicht angerauhter Stimme ein rollendeckend
proletarisches Profil.
Im
Graben demonstriert Philippe BACH einmal mehr die erstaunlichen klanglichen
Möglichkeiten des Lübecker ORCHESTERs, wobei er bei aller erfreulichen
Farbigkeit des öfteren entschieden zu viel tut, weniger Lautstärke wäre
mehr. HK
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