LA VOCE DELLA PATRIA

Der Abend begann mit einer leeren Bühne, auf die nach und nach Chor wie Protagonisten traten. Über den Abend hinweg entdeckte man das eine oder andere, das einen verdächtig an die vergangenen "Les Mis"-Vorstellungen erinnerte. Doch trotz streckenweise kargem Bühnenbild wurde es ein interessanter, abwechslungsreicher Opernabend.

Ausrine STUNDYTE ist eine Ausnahmekünstlerin. Von ihrer Maddalena de Coigny ging vom ersten Auftreten an eine ungeheure Faszination aus. Lange hat mich niemand mehr von der ersten Sekunde an so begeistern und fesseln können. Sie besitzt eine natürlich schöne Stimme, die mit soviel Leidenschaft klingen kann, daß man über die leisen, milden Momente ganz überrascht war. Ihr Sopran klang nie schrill, nie überfordert und birgt eine solche Vielzahl an Farben in sich, das jede einzelne ihrer Szenen zur Entdeckung wird. Schlußendlich war sie zu Recht die Sensation dieses Premierenabends - und dessen Heldin.

Antonio YANG hatte nach dem Jochanaan auch hier die Möglichkeit, sich in der Premiere zu bewähren. Er meisterte Gerard gut, sollte aber zukünftig vermeiden, sich mit der überlauten Orchesterbegleitung messen zu wollen. Man hört ihn auch so hervorragend. Er wird an dieser Partie sicherlich wachsen, bringt aber mit seiner gut geschulten, kräftigen Stimme und dem natürlich scheinenden Hang zur Rollengestaltung bereits definitiv das notwendige Rüstzeug für das italienische Fach mit.

Der Tenor des Abends wußte wieder auf die ihm eigene Art zu begeistern. Glücklicherweise hatte man sich entschlossen, Patrick BUSERT nicht nur als Abbé, sondern auch als Incroyable zu besetzen, so daß ihm die Möglichkeit zu zwei, wenn auch kleinen, aber erstklassigen Rollenporträts gegeben war. Stimmlich ist er bereits seit einiger Zeit über diese sicherlich weit hinaus, doch sei es der Abbé, der in seiner wenig keuschen Verliebtheit in die Schönheit(en) des Lebens ein Angelpunkt des gräflichen Festes war, sei es der Incroyable, der trotz seines modischen Auftretens durchaus brutale Züge trug, seine Rollenporträts sind stets vollkommen.

Die Besetzung einiger Ensemblemitglieder in mehreren Partien barg durchaus Amüsantes (ohne daß es der musikalischen oder darstellerischen Qualität abträglich war). Weniger bei Roswitha C. MÜLLER, die sich im ersten Akt als temperamentvolle Gräfin in Szene setzen konnte. Ihre Madelon später am Abend brachte für mich seit langem wieder einmal die Tragik dieser Figur spürbar zutage. Durch die beiden so unterschiedlichen Partien bekam man die Möglichkeit, sich ein Bild von der vokalen Bandbreite ihres Mezzosoprans zu machen - mit höchst erfreulichem Ergebnis.

Andreas HALLER durfte neben Fleville sowohl Roucher, als auch Fouquier-Tinville singen. Vom besten Freund zu Richter, das ist eine wahrhaft tragische Entwicklung! Nichtsdestotrotz hörte man auch hier soliden Verismo, ob nun der leicht abgedrehte Künstler, der die Gesellschaft mit der Präsentation der Pastorale erfreut oder der verhinderte Fluchthelfer. Konstant trug Fouquier-Tinville Züge des Großinquisitors in sich, was der Partie hörbar zugute kam, aber auch erschreckend realistisch war.

Hye-Sung NA sang eine Bersi, die nicht nur endlich einmal textdeutlich über die Bühne ging, sondern auch mit ihrem klaren Gesang fern jeder piepsig-schrillen Artikulation, dem Charakter das Gewicht verlieh, das er verdient. Dankbar folgte man ihrem Auftritten im zweiten Akt, wieder wahrnehmend, welch' gefällige und fröhliche Musik Giordano dieser Figur geschrieben hat. Steffen KUBACH gab einen ausgesprochen unterhaltsamen Mathieu mit mürrisch-zwielichten Zügen. Titus WITT bewies sich als Haushofmeister, Dumas und Schmidt.

Der Abend brachte auch etwas zutage, das mich überraschte. Ich hätte in keiner Weise erwartet, daß eine "Chenier"-Aufführung ohne adäquate Besetzung der Titelpartie funktioniert, doch das Ensemble rund um Mario DIAZ bot eine so runde und spannende Leistung, daß man - bis auf so manche Pein für die Ohren - den eigentlichen Helden der Oper irgendwann glatt vergaß. Der begeisterte Applaus seines Publikums ist dem Tenor sicherlich zu gönnen, doch der Zustand seiner Stimme, das Fehlen einer Gesangslinie und die Lücken in der Textkenntnis sind schwerlich zu verzeihen. Die "Darstellung" des Charakters beschränkte sich zudem auf einige Standardgesten sowie bedeutungsschwangeres Hin- und Herschreiten.

Das ORCHESTER dagegen war an diesem Abend nur schwerlich zu überhören. Philip BACH schien dem Irrtum zu erliegen, daß Verismo mit hoher Lautstärke gleichzusetzen sei. Giordanos Musik tat dies, wenig überraschend, nicht gut. Alle Gestaltungsmerkmale schwanden in einem Forte-Einheitsbrei dahin. Nur in wenigen Momenten blitzte die eigentliche musikalische Grazie der Komposition auf. CHOR und EXTRACHOR (Leitung: Joseph FEIGL) hatten indessen einen wieder sehr guten Abend. Besonders schön klang die Pastorale.

Regisseur Bernd Reiner KRIEGER ist etwas gelungen, das man in Lübeck bereits vermißt: eine runde, stückkonforme Inszenierung, die mit einfachen dramaturgischen Mitteln und minimaler Ausstattung auskam, ohne daß es nur eine Sekunde billig oder wenig durchdacht wirkte. Durch die zeitlich passenden Kostüme und das Ambiente wurde der Raum (Ausstattung: Dieter KLAß) geschaffen, der mit vielen kleinen, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes plakativen, aber interessanten Ideen gefüllt wurde, von denen man weitere wohl erst bei zweiten Mal entdecken wird. Der Wandel vom gräflichen Schloß zur Szene im Cafe wurde durch das Verschieben einiger Requisiten perfekt im Sinne "alt zu neu" vollzogen.

Also, doch wieder einmal italienische Oper, die auch vom Regieteam inspiriert umgesetzt wurde, auf der Bühne des Theaters Lübeck, was vom Premierenpublikum dankbar und begeistert akklamiert wurde. Ein gelungener Abend und eine Produktion, die man sich nicht entgehen lassen sollte. AHS