Als
zweite Musiktheaterpremiere 2007/2008 wählte man am Theater Lübeck ein
Stück, das sich bereits deutschlandweit als Renner erwiesen hat: Boublils
und Schönbergs Musical "Les Misérables". Leider hatte sich das anscheinend
noch nicht herum gesprochen, so daß die Premiere weniger gut besucht war.
Schade, denn ein Grund zum Wegbleiben ist die Produktion in keinem Fall.
Regisseur
Wolf WIDDER orientiert sich mit seiner Deutung sehr stark an Hugos Buch.
Manchmal ist es zwar zuviel des Guten und Überfrachtung droht, aber alles
in allem bekommt man eine zweckmäßige Inszenierung geboten.
Gut,
es wirkte ein wenig absurd, daß "Bettler ans Buffet" hier wörtlich genommen
wird, zumal eine soziale Attitüde kaum dem Charakter Thenardiers entspricht.
Auch das Fließband in der Fabrik sowie die Szene vom Ende der Barrikade,
die ob ihres übertriebenen Pathos und der Choreographie meilenweit an
der Musik vorbei komplett daneben geriet, kann man besser umsetzen. Doch
Einfälle wie die, daß Valjean seinen gelben Schein zerreißt und Cosette
tatsächlich mit einer Puppe aus Kochlöffeln spielt sowie die Szene am
Ende, in der die Toten sämtlichst auf der Bühne erscheinen, waren gut
gesetzt.
Thomas
CHRIST konnte als Jean Valjean sein Potential bedeutend besser verkaufen
als in der vergangenen Spielzeit. Zwar ließ er bis zur Szene, in der Valjean
Marius seine Identität enthüllt, die Entwicklung der Figur vermissen,
doch musikalisch war er dem Ganzen gewachsen und brachte die nötige Verve
mit.
Die
Besetzung von Steffen KUBACH als Javert war eines der bei uns über den
Sommer heißdiskutiertesten Themen. Doch letztendlich erwies gerade er
sich als das Highlight der Produktion. Der Sänger hatte jede Szene im
Griff, in der er erschien. Sein Polizeiinspektor, recht ungewohnt mit
Bart und vor allem ohne Stock, stand weniger in der Tradition Jagos oder
Scarpias, sondern war vielmehr schlicht ein Mensch, der Regeln und Vorschriften
braucht, um sein Leben in der Bahn zu halten. Der Verlust dieses Dogmas
bringt rollenkonform den augenblicklichen Zusammenbruch eines ganzen Weltbildes.
Gesanglich
habe ich in der deutschen Version bisher noch niemanden gehört, dem die
Balance zwischen kraftvollen Ausdruck und lyrischer Umsetzung so perfekt
gelang. Allein dies macht die Produktion hörenswert. Der Jubel am Ende
war nicht mehr als verdienter Lohn für eine tadellose Leistung.
Ein
wenig erinnerte Katharina SCHUTZAs Eponine an Bellatrix Lestrange im letzten
Harry Potter-Film. Mit wüster Friseur und entsprechendem Outfit ausgestattet,
wirbelte sie durch ihre erste Szene, hatte später aber auch genug Ausdruck
und Gefühl für die weitere Entwicklung ihrer Figur. Simone TSCHÖKE kämpfte
sich tapfer durch die Noten Fantines. Es steht zu hoffen, daß die Schwierigkeiten
der Abendform geschuldet waren, denn ihre darstellerische Interpretation
war imponierend.
Der
Thenardier von Manfred OHNOUTKA kam widerwärtig und höchst unsympathisch,
also rollenkonform, daher. Der Charakter war somit dicht am Buch ohne
den normalerweise vorhandenen, komischen Bonus im Musical. Einen drauf
setzte hier allerdings Simone MENDE als Madame Thenardier. Von ihr sah
und hörte man eine gelungene Milieustudie - herrlich schräg, hundsgemein
und mit beeindruckendem Stimmaterial.
Andrea
STADELs Cosette war leider nur ein Alptraum in Rüschen. Dabei kann man
aus der Figur wesentlich mehr machen als ein ewig lächelndes Dämchen.
Der übertrieben soubrettig klingende Gesang und der Versuch, die Rolle
wie eine Opernpartie zu singen, taten ein übrigens zu diesem Desaster.
Ihr zur Seite gefiel sich Tomasz DZIECIELSKI so sehr als Musicaldarsteller,
daß Marius als Charakter auf der Strecke blieb. Allerdings verfügt er
zumindest über eine Stimme, die ihn die Rolle mit Anstand singen ließ.
Kai
BRONISCH gelang nicht einmal das. Streckenweise ging sein Enjolras musikalisch
komplett unter. Dazu fehlte es ihm an dem so wichtigen Charisma und Präsenz.
Beides besaßen die übrigen Studenten glücklicherweise im Überfluß. Mark
McCONNELL (Combeferre), Maxim KURTSBERG (Courfeyrac), Lars JACOBSEN (Joly),
Yong-Ho CHOI (Grantaire) und Young-Soo RYU (Prouvaire) präsentierten sich
in diesen wie auch in allen weiteren von ihnen interpretierten Rollen
hervorragend. Joao CARRERA sang nicht nur einen charmanten Feuilly, sondern
insbesondere auch einen wunderbar schmierigen Bamatobois.
Eine
interessante und obendrein musikalisch hochklassige Darbietung des Bischofs
hörte man von Ivan LOVRIC-CAPARIN (Wow!). Enrico-Adrian RADU war in x-Rollen
irgendwie permanent auf der Bühne zu sehen. Er machte seine Sache erwartungsgemäß
sehr gut. Lucas KUNZE, Aleksej SINICA, Chul-Soo KIM, Tomasz MYSLIWIEC
präsentierten die verschiedenen männlichen Charaktere ebensogut wie Krystyna
HOFFMANN, Ulrike HILLER, Gisela PRUSEK, Birgit MACZIEY, Andrea ALEXANDER,
Daniela Henriette WÖHLER, Dorothea STAMOVA, Therese MEINIG und Margrit
CUWIE die weiblichen.
Anton
KREBBER war als Gavroche einfach nur nervtötend und spielte übertrieben
plakativ, weshalb Antonia REINLÄNDER (kl. Cosette), aber besonders Ronja
LEHMANN als kleine Eponine eher eine Lanze für singende/spielende Kinder
auf der Bühne brechen konnten.
CHOR
und EXTRACHOR machten ihre Sache sehr gut. Die Massenchoreographien gerieten
nie aus den Fugen und optimal geprobt, klang auch alles vollkommen virtuos.
Kurzum, den Jubel, der Joseph FEIGL für seine Chorleitung zum Schußapplaus
entgegenschallte, war mehr als gerechtfertigt.
Enttäuschend
war diesmal das Dirigat von Ludwig PFLANZ. Anstelle der gewohnt frischen
Tempi hetzte der Dirigent durch den Abend, so daß sich weder Sängern,
noch Publikum Gelegenheit zum Luftholen blieb. Schade, denn es gibt sie
in "Les Mis", die Momente, in denen die Handlung innehält und für einen
Augenblick schlicht nichts außer ein bißchen Romantik passiert. Das minimierte,
gut disponierte ORCHESTER kam da noch am besten mit. AHS
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