Nach
Lübeck fahren oder zuhause bleiben? Diese Frage beschäftigte mich das
halbe Wochenende. Sollte ich mir im Lübecker Theater "Rake's Progress"
ansehen bzw. hören oder doch lieber vom Sofa aus meinem Lieblingsfahrer
beim F1-Rennen in Montreal die Daumen drücken??? Das Wetter war da keine
Entscheidungshilfe, aber letztendlich trieb mich dann doch die Neugier
nach Lübeck.
Es
war ein guter Entschluß, denn trotz allem, was ich im Vorfeld über diese
Strawinsky-Produktion gehört hatte, wurde es ein amüsanter Abend mit musikalischen
Highlights.
Jakob
PETERS-MESSER ist mit seiner Regie nicht der ganz große Wurf an Innovation
und Inspiration gelungen, doch das Geschehen auf der Bühne zeugte von
solider handwerklicher Arbeit.
Hin
und wieder wurde allerdings der Symbolhammer überstrapaziert. So ist die
provinzielle Enge so gravierend, daß die Tür der guten Stube selbst Vater
Trulove zu eng ist. Anne und ihre Welt sind von strahlendem Weiß, während
die feindliche Welt außerhalb – und somit auch Nick Shadow und sein Umfeld
– den rot-schwarzen Gegenpol darstellen (Bühnenbild: Markus MEYER).
Die
„Realität“, in der das Absurde stattfindet, ist, ähnlich wie in der „Nos“-Inszenierung
am Lübecker Theater vor ein paar Jahren, so überfrachtet, daß zu wenig
noch absurd erscheint.
Der
Chor trägt T-Shirts (Kostüme: Sven BINDSEIL) beschriftet mit zur jeweiligen
Szene passenden englischen Worten (u.a. "Peep" und "Show" sowie das wohlbekannte
F***-Wort), Baba, the Turk präsentiert ihre (angebliche) Monstrosität
offen, und das Outfit, in das man Mother Goose gepreßt hat, ist reichlich
unkleidsam und aus meiner Sicht für ihre Berufsausübung z.T. auch wenig
praktikabel. Die von Tom erträumte Maschine zur wundersamen Broterzeugung
ist ein überdimensionaler Toaster.
Die
Gestaltung des Epilog ist mit seinen Anklängen ans „Falstaff“-Finale (*LOL*)
einfach grandios gelungen.
Die
Entscheidung, Andrew FRIEDHOFF nach dem Faust auch den Tom Rakewell zu
übertragen, kann im besten Fall als eine sehr zweifelhafte bezeichnet
werden. Der Vorteil des Egomanen Tom ist, daß hier weniger auffällt, daß
der Tenor versucht, eher sich selbst zu präsentieren, anstatt sich in
den Dienst der Rolle zu stellen. Seine musikalische Leistung ist einzig
als kläglich zu bewerten. Neben den bereits im „Faust“ gehörten Fehlern
kamen hier vermehrt Töne dazu, die klangen, als würden sie nach hinten
wegkippen und langsam die Kehle des Sängern wieder hinunterschrammen.
Im ganzen also nicht einmal ein "work in progress".
Das
Konzept des Regisseurs, Nick Shadow zum dunklen Teil der Rakewell'schen
Seele zu machen, geht so nicht auf. Die Leistung von Gerard QUINN war
dafür auch einfach zu überragend. Sein Nick scheint geradewegs einem Schauerroman
der Romantik oder einer Geschichte Edgar Allan Poes entstiegen. Einen
Schatten nur – schwer greifbar, diabolisch und doch in der Alltäglichkeit
seines Tuns sehr real. Dem Bariton gelingt es besonders gut, die intensive
Verbindung zwischen Text und Musik durch pointierten Gesang und exzellente
Sprachbehandlung deutlich zu machen.
Anne
Truelove, die Reine und bedingungslos Positive, die ihrem Tom letztlich
bis in die Irrenanstalt folgt und erst spät den Glauben an ihn verliert,
erhält in Lübeck eine sehr gute musikalische Charakterisierung. Daß Figur
die meiste Zeit eher eindimensional wirkt, liegt keinesfalls an Stefanie
KUNSCHKE, sondern ist vielmehr darin begründet, wie die Rolle von vornherein
angelegt ist. Das, was der Sängerin an Gestaltungsmöglichkeit zur Verfügung
steht, nutzt sie um so stärker und macht die Entwicklung der Figur und
damit auch deren schlußendliche Entscheidung gegen Tom deutlich nachvollziehbar.
Patrick
BUSERT macht die Versteigerungsszene zu einem Highlight der Inszenierung.
Er zeichnet Sellem, den Auktionator, als quirlige Gestalt, die völlig
in seiner Aufgabe, Toms verbleibende Habe an das staunende Volk zu versteigern,
aufgeht, ohne daß das eigene Staunen abhanden kommt. Auch musikalisch
meistert er die Partie hervorragend, empfiehlt sich letztendlich erneut
für größere Aufgaben. Seine ausgezeichnete Diktion und der makellose Gesang
sind nur zu loben.
Auch
Alina GURINA versteht es, ihre Rolle zu einer kleinen Sensation zu machen.
Frisurtechnisch an Frankensteins Braut erinnernd stolziert Baba, the Turk
auf Highheels durch Haus und Leben Tom Rakewells und besitzt auch mit
einem über den Kopf gestreiften Pappkarton nur eine unglaubliche Präsenz.
Grandios gesungen war ihre Tirade, unterbrochen von den Nachfragen an
ihren Göttergatten – Szenen einer Ehe...
Andreas
HALLER liefert als Vater Truelove eine solide Leistung, während Dorothea
STAMOWA doch mit dem einen oder anderen gesanglichen Defizit zu kämpfen
hat.
CHOR
und EXTRACHOR klangen sehr homogen und meisterten die z.T. nicht sehr
einfache Umsetzung von Strawinskys Musik gepaart mit dem szenischen Konzept
sehr souverän.
Frank
Maximilian HUBE leitet den Abend mit der hohen Professionalität und Musikalität,
die zum Standard in seinen Vorstellungen gehören. Es gibt keine Längen,
keine Langeweile. Das LÜBECKER PHILHARMONISCHE ORCHESTER hatte nicht seinen
besten Abend, spielte aber meist zuverlässig und rundete damit einen gelungenen
Abend ab. AHS
P.S.
Falls es jemanden interessiert: Der besagte Formel1-Fahrer mußte in der
63. Runde wegen Bremsdefekts das Rennen aufgeben. :-(
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