Freunde,
Mitbürger, Musicalfans, fahrt nach Lübeck! Es gibt eine Produktion, die
Loewe und Lerners Erfolgstück behutsam modernisiert hat, über ein absolut
erstklassiges Ensemble verfügt und jede Spur von Patina durch Schwung
einfach fortgewischt hat. Es fällt allerdings schwer, genau zu benennen,
was jetzt das Großartigste an diesem Abend gewesen ist.
War
es die Regie von Thomas MITTMANN, der es ohne jede Anstrengung gelang,
daß Sujet aus dem edwardianischen London in die Gegenwart zu holen? Da
spielt die erste Szene in der Ausstattung von Wolfgang BUCHNER nicht mehr
vor Covent Garden, sondern in der U-Bahn; wo sonst treffen so viele unterschiedliche
Leute aufeinander? Higgins residiert in einem schicken Penthouse, Mrs.
Higgins läßt sich von einer kampfsporterprobten weiblichen Truppe à la
Charlies Angels Wellnessbehandlungen verabreichen. Der Dienstbotenchor
setzt sich unter anderem aus einer Gruppe Fensterputzer zusammen, die
von der Penthouseterrasse, dem Unterricht zusehen. Freddy campiert im
wahrsten Sinne des Wortes vor Higgins’ Haus - in einem roten Iglu-Zelt.
Higgins nimmt Elizas Sprachversuche auf CD-Rohlingen auf. Eliza, eine
Punk-Göre, ist noch nicht soweit erwachsen, daß sie auf ihren Teddy verzichten
kann, der nach und nach allen Bewohnern des Higgins’schen Haushaltes ans
Herz wächst... Man kann einfach nicht aufzählen, was dem Regisseur alles
eingefallen ist. Und nach dem berüchtigten „Eliza, wo zum Teufel sind
meine Pantoffeln?“ ist das Stück keineswegs schon vorbei, sondern schenkt
uns noch einen Blick in die Zukunft.
Der
einhellige Erfolg des Abends könnte aber auch zuerst an der umwerfenden
Besetzung liegen. Annette PFEIFER als Eliza ist nichts weniger als ein
Glücksfall. Daß der Mezzosopran eine tolle Sängerin ist, weiß man aller-,
allerspätestens seit ihrer Rosina. Daß sie aber auch tänzerische Maßstäbe
setzt, und die freche Göre ebenso überzeugend verkörpert wie die Lady,
die alle bezaubert, war weit mehr als man auch bei optimistischster Erwartung
vorher geglaubt hatte.
Steffen
KUBACH entspricht eigentlich nicht dem, was ich mir unter einem Henry
Higgins vorstelle. Nur schaffte er, mich dies drei Stunden lang völlig
vergessen zu lassen. Es ist eine interessante und überaus seltene Erfahrung,
diese Rolle einmal gesungen und nicht nur gesprochen zu hören, wobei Kubachs
Sprachbehandlung absolut vorbildlich ist. Zudem ist er Komödiant genug,
um nicht in sinnlose Albernheiten zu verfallen.
Rainer
LUXEM stiehlt als Pickering so ziemlich jede Szene, in der er auftritt,
ohne daß dies unangenehm oder aufdringlich wirkt. Er ist schlicht immer
präsent. Patrick BUSERT übersteht als Freddy nicht nur diverse Verkehrsunfälle,
während der durch die Straße, in der Eliza lebt, tanzt, er singt auch
mit schöner Phrasierung, ohne „In der Straße, wo du lebst“ zu verkitschen,
was ihm erst einmal jemand nachmachen muß.
Während
Enrico Adrian RADU und Mark McCONNELL als Kumpel von Elizas Vater positiv
auffielen, kann dies von Volkmar BENDIG als Doolittle nicht gesagt werden.
Ihm fehlte es stark an Stimme und Auftreten. Hauptsächlich chargierend
war Anneliese WELGE als Mrs. Higgins. Wie man eine Dame mit Klasse und
Humor darstellt, hätte sie sich besser bei Ingeborg OTTO (Mrs. Pearce)
abgeschaut, die souverän über den Haushalt des Professors herrschte.
Es
ließe sich auch sagen, daß es am Dirigat von Ludwig PFLANZ lag, der aus
dem PHILHARMONISCHEN ORCHESTER alles herausholte. Wie häufig bei ihm wurde
der Sound leicht jazzig, was jede Operettenseligkeit, die sich leicht
in die Musik einschleichen könnte, prompt verscheuchte. Der CHOR machte
seine Sache gut, allerdings klang die Ascot-Gavotte beim Theaterfest einige
Tage zuvor sehr viel homogener. Ein Sonderlob ist für die Tanzkünste des
Chors angebracht (Choreographie: Pascale CHEVROTON), aufgrund derer man
gut auf die professionellen Tänzer hätte verzichten können.
Ich
will wirklich nicht entscheiden müssen, was an erster Stelle für den höchst
amüsanten Abend verantwortlich ist. Nur eines muß ich anmerken: es ist
sehr schade, daß der vielseitig talentierte Teddy (mit Tanzeinlage bei
„Ich hätt’ getanzt heut’ nacht“) leider nicht im Programmheft namentlich
genannt wurde. MK
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