Eigentlich
wußten wir es doch schon immer: Raoul de Chagny ist nie und nimmer die
richtige Mann für Christine Daaè. Sie hätte besser bei Erik, dem Phantom
der Oper bleiben sollen, statt mit Raoul in Happyend zu eilen.
Mit
Fortsetzungen ist das ja so eine Sache. Natürlich läßt ein glückliches
Ende häufig Fragen offen. Was geschieht mit den Figuren, wenn der Vorhang
gefallen, die letzte Seite des Buchs gelesen ist? Aber gab es wirklich
je eine richtig gute Fortsetzung einer erfolgreichen Geschichte? (Mir
fallen gerade eher Beispiele aus dem Bereich Fanfiction ein.) Andrew
Lloyd Webber hat nun eine Fortsetzung seines Erfolgsmusical "Phantom of
the Opera" auf die Bühne gebracht, das die Zuhörerschaft spaltet.
Die
Inszenierung von Jack O'BRIEN ist bunt. Die Beziehungen zwischen den Figuren
werden nach den Möglichkeiten des Stücks in Szene gesetzt. Die Choreographien
(Jerry MITCHELL) sitzen. Kostüme und Bühnenbilder (Bob CROWLEY) sind zeitgemäß,
und natürlich wird nicht an Special Effects (Scott PENROSE) gespart. Mehr
ein Spektakel, denn ein romantisches Drama.
Die
Geschichte spielt in New York, genauer gesagt auf Coney Island, und beginnt
mit einem (gewohnt) mystischen Auftritt von Madame Giry, die sich an die
glorreichen Zeiten eines Vergnügungstempels namens Phantasma (!) erinnert.
Nach Coney Island waren Madame Giry und ihre Tochter nach dem Unglück
an der Pariser Oper gekommen, und sie brachten das Phantom, welches sie
gerettet und gepflegt hatten, mit sich nach Amerika. Hier zogen Erik und
Madame Giry ein gigantisches Vergnügungsetablissement auf. Meg wurde hier
zu einem beliebten und erfolgreichen Revuegirl.
Auch
zwischenmenschlich hat sich einiges getan. Meg liebt das Phantom, das
aber Christine Daaè nicht vergessen kann Es gibt sogar eine Art mechanische
Christine-Puppe in Eriks Refugium. Da ihm aber die Puppe nicht ausreicht,
engagiert Erik, unerkannt natürlich, die inzwischen höchst erfolgreiche
Operndiva. Christine reist mit Kind und Mann nach New York, denn sie braucht
dringend Geld.
Raoul
ist, wir ahnten es ja, ganz klassenkonform zum Trinker und Spieler geworden.
Er gibt den Lebemann, während seine Frau für den Lebensunterhalt sorgen
muß. Es kommt zu einem recht vorhersehbaren Ablauf mit Liebe, Eifersucht
und Revue sowie der einen oder anderen Überraschung à la "wie jetzt?".
Erik wird natürlich schnell als das Phantom erkannt. Gustave, Christines
Sohn, spielt eine wesentliche Rolle, und der Schluß ist ausgesprochen
tragisch.
Dies
alles könnte recht unterhaltsam sein, doch leider sind die Löcher im Plot
so groß, daß locker einer dieser roten Londoner Doppelstockbusse hindurchpaßt.
Gerade die Geschichte um Gustave paßt nicht so recht in die Handlung des
ersten Teils (wann denn das?). Es gibt in der Literatur schon Ansätze
dafür, aber leider eben nicht bei Lloyd-Webber.
Musikalisch
bekommt man gute Genrekost geboten. Es klingt unterhaltsam, ist manchmal
sogar sehr hörenswert. In der Szene, in der Erik Gustave sein Reich zeigt,
wird es sogar rockig, was zwar gut klingt, aber leider weder in den musikalischen
Kontext, noch in die Handlung paßt. Die stärksten Momente in der Musik
sind dann aber doch jene, in denen Lloyd-Webber den ersten Teil zitiert.
Die
Texte von Glenn Slater gehen zum Teil in die Richtung Herz-Schmerz-Lyrik,
was dann auch schon nichts mehr macht.
Gerettet
hätte den Abend sicherlich ein gut besetztes Phantom. Unglücklicherweise
entschied man sich aber für Ramin KARIMLOO. Mit einer eher träge dahinfließenden,
nicht sonderlich interessanten Stimme, die primär zum bei einem Teil des
Musicalpublikums sehr beliebten, langen Halten schöner und auch nicht
so schöner Töne taugt, ausgestattet, ließ er zudem eine ausgeprägte Charakterisierung
der Figur vermissen. Sein Erik war derart "out of character", daß man
dies nur damit erklären kann, daß ihm die halbe Pariser Oper auf den Kopf
gefallen ist. Man vermißte Eriks Gefährlichkeit, sein Genie, seinen Wahnsinn
und auch seinen skurilen Humor.
Viel
besser traf Sierra BOGGESS Christine Daaè. Ihre Stimme klingt gefällig
und tadellos. Die Figur ist zu einer selbstbewußten Diva gereift, eine
glaubwürdige Entwicklung einer jungen Frau, die Karriere, Familie und
die Eskapaden Raouls unter einen Hut bringen muß, die gut rübergebracht
wurde. Eine recht hübsche Stimme ließ auch Joseph MILLSON hören. Sein
Raoul wird der Entwicklung der Figur vom verliebten adligen Jungen im
"Phantom" hin zum launischen Ehemann gut gerecht. Der Gustave des Abends
war rollendeckend aufgeweckt und lebhaft.
Liz
ROBERTSON gab Madame Giry als die gewohnt mysteriöse Figur. Neu war die
Geschäftstüchtigkeit, die diese an den Tag legte. Ob der Schwiegermutter
in spe-Aspekt, der ihr seitens des Stücks zugedacht ist, not tut sei einmal
dahingestellt. Der Eindruck, sie mit der musikalischen Wiedergabe hinterließ,
war zwiespältig. Ihre Stimme klang streckenweise rauher als notwendig.
Aus
der kleinen Meg Giry hat man das bereits erwähnte Revuegirl mit Ambitionen
auf Liebesglück gemacht. Summer STALLEN gelang die entsprechende Umsetzung
der Figur recht gut. Sie verbreitet rollendeckend gute Laune, singt recht
nett und tanzt sehr. Ein wenig fehlte es noch an der Fähigkeit, die Wende
hin zur Verzweiflungstat plastisch darzustellen.
Louise
MADISON (Fleck), Adam PEARCE (Squelch) und Jami REID-QUARRELL (Gangle)
brachten als düstere Begleiter Eriks zumindest etwas der mystischen Komponente,
die das Phantom selbst vermissen ließ, auf die Bühne. Sie sind wesentliche
Bestandteile der Freakshow, die im Phantasma geboten wird.
Vielleicht
hätte Andrew Lloyd Webber es mit Kurt Tucholsky halten sollen, der einmal,
wenn auch auf den Film bezogen, erklärte, weshalb nach einem Happyend
gewöhnlich abgeblendet wird. Möglicherweise verdient "Lover Never Dies"
auch eine weitere Chance. Dann allerdings definitiv mit einem anders besetzten
Phantom. AHS
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