Jenseits
von "Jewgeni Onegin" findet sich große russische Oper nur allzu selten
auf deutschen Spielplänen. Schade, denn je mehr man aus diesem Musikfach
hört, umso mehr steigt das Suchtpotential.
An
der Hamburgischen Staatsoper hat man für Borodins Meisterwerk ein eigentlich
durch die Bank ausgezeichnetes Ensemble (mit einigen, aber nicht allein
aus Muttersprachlern) gefunden, daß nicht nur stimmlich, sondern gerade
auch in der Sprachbehandlung überzeugt.
In
der Titelpartie zeichnete Andrzej DOBBER das Porträt eines pflichtbewußten
Fürsten, der wohl gerade aus dieser Gewissenhaftigkeit gegen die Polowetzer
zieht. Die Ruhe, die er mit seiner Interpretation ausstrahlt, macht die
Figur zum geforderten Dreh- und Angelpunkt des Stücks und spiegelte sich
auch in der musikalischen Interpretation. Dobbers Stimme wie für dieses
Repertoire wie gemacht. Igors Arie sang der Bariton nicht als das rein
stimmliche Bravourstück, das ihm vermutlich den meisten Applaus bringen
würde, sondern nutzte es, um Igors Gefühlslage, seiner Verzweiflung plastisch
Ausdruck zu verleihen. Viel Applaus erhielt er dafür trotzdem - und zu
recht.
Dem
Fürsten zur Seite sang Veronika DZHIOEVA mit so unglaublich schöner, farben-
wie charaktervoller Stimme eine Jaroslawna, an der man sich kaum satthören
konnte. Jede Sekunde ist sie präsent und trotz all der Würde der Rolle
voller Temperament.
Tigran
MARTIROSSIAN ist als Fürst Galitzky schlichtweg grandios, und so sehr
man seinen Kontschak aus der letzten Serie vermißte, wertete diese Interpretation
Wladimir Jaroslawitschs die Produktion doch ungeheuer auf. Hier sah man
die Verschlagenheit der Figur in jeder Geste, jedem Blick, ohne daß es
auch für eine Sekunde aufdringlich gewirkt hätte. Hinzu kommt die schöngefärbte
Baßstimme mit der nötigen Flexibilität für die Partie.
Dovlet
NURGELDIYEV hat als Wladimir viel Gelegenheit seine makellose, schöntimbrierte
Stimme zu präsentieren, doch natürlich begnügte sich der Tenor nicht allein
damit. Bühnenpräsenz läßt sich eben nicht abstellen, und so sah man einen
schwärmerischen jungen Mann, der nicht nur Kontschakowna, sondern mindestens
neunzig Prozent des Publikums im Sturm eroberte. Ihm zur Seite war Cristina
DAMIAN eine ebenbürtige Partnerin. Sie sang ihre Partie mit großer Leichtigkeit,
die ihrer Stimme trotz des mittlerweile reiferen Timbres immer noch innewohnt.
Levente
PÁLL wertete das Duo Skula und Eroschka (Markus PETSCH) unglaublich auf.
Er setzte nicht nur stimmlich, sondern insbesondere auch durch die exzellente
Sprachbehandlung wichtige Akzente. Gut, daß Markus Petsch sich davon mitziehen
ließ.
Sergiu
SAPLACAN hat einen riesigen Schritt sowohl in der stimmlichen Entwicklung,
als auch im Ausbau seiner darstellerischen Fähigkeiten gemacht. Im Vergleich
zur ersten Serie wurde Owlur so zu einem essentiellen Teil der Geschichte,
und man verstand, weshalb Igor sich schlußendlich von ihm zur Flucht überreden
läßt.
Paata
BURCHULADZE besitzt zumindest Präsenz. Stimmlich ermüdete er rasch und
ließ daher viel von Kontschaks Energie vermissen. Solen MAINGUENÉ ergänzte
als Polowetzer Mädchen.
Ein
Fan vom CHOR unter der Leitung von Christian GÜNTHER zu sein, war hier
nicht schwierig, stand das Ensemble den Leistungen der Solisten in nichts
nach.
Christian
ARMING hatte diesen Abend gut im Griff. Die PHILHARMONIKER HAMBURG ergänzten
die musikalische Darbietung auf der Bühne mit einigen ausgesprochen schönen
Momenten aus dem Graben.
Was
sich Regisseur David POUNTEY bei der Inszenierung gedacht hat, ist in
keiner Weise nachzuvollziehen. Ja, Borodins Oper spielt in Russland. Aber
muß die Produktion deshalb partout in die Sowjetzeit versetzt werden?
Und muß man sich deshalb tatsächlich jedes noch so blöden Klischees zu
diesem Thema bedienen? Alkohol, Autokraten, Pioniere werden gemixt mit
nicht weniger überspannten Terroristenklischees für die Polowetzer. Man
kann viel auf einer Opernbühne machen, aber dann sollte es handwerklich
gut und bitte keine lose Ansammlung sinnbefreiter Einfälle sein.
Apropos
sinnbefreit. Der Ruf des Hamburger Balletts ist weithin ein ausgezeichneter,
und die Leistung der jungen Tänzer der BALLETTSCHULE war ohne jeden Zweifel
perfekt. Leider konnten aber auch sie der völlig überinterpretierten Choreografie
Renato ZANELLAs keinen Sinn einhauchen. Hier zeigte sich denn auch am
deutlichsten das größte Manko der Produktion. Statt mit der Musik zu arbeiten,
wurde versucht, dem Stück eine persönliche Sichtweise aufzudrücken, die
partout nicht passen mag.
Besser
funktionierte es bei den Kostümen (Marie-Jeanne LECCA), die sowohl zur
jeweiligen Figur, als auch zum dazugehörigen Sänger paßten. Das flexible
Bühnenbild (Robert Innes HOPKINS) war an diesem Abend beinahe ausnahmslos
unfallfrei umbaubar, und insbesondere die gut gemachte Lichtregie von
Jürgen HOFFMANN sorgte für stimmungsvolle Momente.
In
der Beziehung Musik und Szene gewinnt glücklicherweise erstere, denn es
gibt so viele einfach großartige musikalische Momente in diesem Werk.
Auch Borodin ist eben nicht totzukriegen, und so steht zu hoffen, daß
"Fürst Igor" auch weiterhin auf dem Hamburger Spielplan zu finden sein
wird. AHS
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