Es
gibt wenige Wiederaufnahmen, denen ich derart entgegengefiebert habe wie
dieser "Chowantschina"-Produktion. Mehr als ein Jahrzehnt war diese mustergültige
Inszenierung von Harry KUPFER in den Depots verschwunden; so daß die Hoffnung,
sie jemals wiederzusehen, ein kaum mehr glimmendes Fünkchen war. Doch
jetzt ist sie in aller Pracht wieder da. Kupfer gelingt es in einem Stück,
in welchem eigentlich alle Personen höchst unsympathisch sind, daß man
trotzdem mitfiebert, daß jede einzelne Figur ausgearbeitet ist, daß immer
irgendwo nachvollziehbare Handlungen passieren, ohne daß dies in blinden
Aktionismus ausartet. Die Atmosphäre der immerwährenden Bedrohung wird
vom Vorspiel an deutlich. In dieser Stadt kann sich niemand sicher fühlen,
daß diese Geschichte nicht gut ausgehen kann, ist nicht verwunderlich.
Die
Kostüme von Reinhard HEINRICH sind sehr angemessen, vielleicht mit Ausnahme
des von zweifelhaftem Geschmack zeugenden Kostüms für Andrej (aber das
kann auch als Charakterisierung gemeint sein), und noch immer ist das
Schlußbild, in welchem Bühnenbildner Hans SCHAVERNOCH die Selbstverbrennung
der Altgläubigen stattfinden läßt, einfach nur atemberaubend. Superlative
reichen kaum aus, um die Wirkung zu beschreiben.
Elena
ZAREMBA wird für mich auf immer mit der Rolle der Marfa verbunden sein.
Ein so tiefes Durchleben einer Partie, irgendwo zwischen kämpferischer
Frau und angsteinflößender Fanatikerin, ist einfach nur als grandios zu
bezeichnen. Der Moment, in dem sie erstmalig erwähnt, sich zusammen mit
Andrej den Feuertod zu wünschen, läßt Schauer über den Rücken laufen.
An ihrer Seite steht Tigran MARTIROSSIAN als Dossifej ihr in nichts nach.
Trotz seiner sichtbaren Jugend ist er ein Führer von großer Autorität,
dessen fast schon hypnotischer Baßstimme schwer zu widerstehen ist, selbst
wenn sie zum Massenselbstmord auffordert. Ein sanfter, aber nichtsdestotrotz
(lebens-)gefährlicher Demagoge.
Matti
SALMINEN als Chowansky ist bereits seit der Premiere dabei. Sicherlich
gibt es stimmlich und von der Beweglichkeit her inzwischen einige Abstriche
zu machen, aber was für einen Charakter stellt der finnische Baß hier
auf die Bühne. Es bedarf nur einiger Töne, um deutlich zu machen, daß
hier ein Mann steht, der sich nimmt, was er will, ohne jede Rücksichtnahme.
Lauri VASAR (Schlaklowitij) hat es mehr mit den leisen, gefährlichen Gesten,
er zieht die Fäden hinter den Kulissen. Seine Arie gelingt ausdrucksvoll,
fast möchte man ihm abnehmen, daß er all das für Rußland tut.
Die
beiden großen Tenorrollen fallen hiergegen doch stark ab. Viktor LUTSIUK
als Andrej (eingesprungen für Michael König) hat neben der Last, den wahrscheinlich
unsympathischsten Charakter auf die Bühne zu stellen, einige Probleme
mit den häufig grell klingenden Spitzentönen. Peter GALLIARD als Golitzyn
kann ich einfach nicht abnehmen, daß er zusammen mit der Regentin Sofia
als cleverer Politiker die Geschicke des Landes geführt hat. Irgendwie
wirkt er sofort stimmlich als auch darstellerisch beiläufig, manchmal
klingt die Stimme dabei überanstrengt.
Hingegen
sind die kleineren Rollen durch die Bank großartig besetzt. Man weiß gar
nicht, wen man hier am höchsten preisen soll: die klarstimmige, durchaus
kämpferische Emma von Katerina TRETYAKOVA, den agilen, sicher singenden
Schreiber von Ziad NEHME, der außergewöhnlich schönstimmige Kusjka von
Dovlet NURGELDIYEV, den autoritären Baß von Wilhelm SCHWINGHAMMER als
Strechnjew/1. Streleze oder den 2. Strelezen des Hee-Saup YOON?
Die
PHILHARMONIKER HAMBURG spielen engagiert, fehlerfrei und mit dem richtigen
russischen Klang, während Simone YOUNG am Pult hier zahlreiche Kleinigkeiten
zusätzlich hörbar macht. Manchmal führt dies dazu, daß Mussorgsky plötzlich
Anklänge an Verdi zeigt, um dann gleich wieder zu der rauheren Klangsprache
zurückzufinden.
Der
CHOR (Leitung Christian GÜNTHER) leistet Großes, sowohl gesanglich als
auch bei der Kupfer eigenen Stärke, Individuen aus der Masse sichtbar
werden zu lassen.
Im
Herbst 2010 gibt es die nächste Serie. Das sollte man sich auf keinen
Fall entgehen lassen. MK
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