Der
Gedanke "Das kommt mir doch bekannt vor" ging mir an diesem Abend mehr
als einmal durch den Kopf. Zu sagen, daß sich die Inszenierung von John
DEW ein wenig von der Norman Jewison-Verfilmung inspiriert ist, wäre als
würde man sagen, daß die Sonne ein klein bißchen hell ist. Natürlich ist
der Gedanke nahe liegend, daß ein guter Film auch eine gute Vorlage ist,
aber das macht komplettes Kopieren noch lange nicht zu einer guten Taktik.
Das beginnt bei Kostümen (José-Manuel Vázquez) über Perückenfarben, Choreographie
(Anthoula PAPADAKIS) bis hin zu großen Bemühungen mit der Maske, damit
die Sänger denen im Film möglichst ähnlich sehen. Einer der wenigen Punkte,
wo man sich Freiheit erlaubt hat, ist ausgerechnet der Wachtmeister, der
- wie könnte es bei einer deutschen Inszenierung anders sein? - in einer
stark an die SS erinnernden Uniform auftritt. Könnten wir das Städtchen
Anatevka bitte in der Ukraine lassen?
Was
leider nicht so leicht zu kopieren ist, ist das Talent der Filmdarsteller.
Die größte Enttäuschung des Abends waren die drei Töchter. Anja VINCKEN
als Tzeitel ist schlicht und einfach langweilig; sie singt ohne irgendeine
erkennbare Begeisterung, als würde sie das, was auf der Bühne passiert,
überhaupt nichts angehen. Margaret Rose KOENNs (Hodel) Problem ist eher
der Sprechtext. Teilweise meistert sie das Sprachproblem gut, aber hin
und wieder gab es Stellen, an denen sie sich viel zu sehr auf den Text
konzentrieren mußte und völlig aus der Rolle fiel. Dafür singt sie ganz
schön, aber ihre Stimme klingt stellenweise zu hart, um ein junges, verliebtes
Mädchen zu spielen. Und schließlich Susanne SERFLING, die als Chavah wenig
Möglichkeit hat, sängerisches Talent unter Beweis zu stellen. Leider macht
sie sich nicht besonders als reine Schauspielerin; ihr Spiel wirkt größtenteils
unecht. Da bei Erwachsenen die Körpergröße nicht mehr linear mit dem Alter
verbunden ist, wäre es vielleicht eine Überlegung wert gewesen, diese
Rollen nach Können statt nach Länge zu besetzen…
Glücklicherweise
wird die Unfähigkeit der drei Töchter durch drei wesentlich überzeugendere
Bräutigame wettgemacht. Lucian KRASZNEC gelingt eine wunderbare Darstellung
des unsicheren Mottel und sein "Miracle of Miracles" war eine Freude,
obwohl ich dieses Lied eigentlich nicht leiden kann. David PICHLMAIER
fehlt ein bißchen der Fanatismus für Perchik, aber dafür ist die Szene,
in der er Hodel einen Heiratsantrag macht, einfach nur wunderbar komisch.
Seinem Gesang war der Opernsänger zwar mehr als deutlich anzuhören, aber
das soll nicht weiter stören. Sven EHRKE hatte als Fedja glücklicherweise
nur zwei Zeilen Gesang in "Lechaim", in denen er, außer russischer Aussprache,
nicht viel falsch machen konnte. Und als Schauspieler macht er sich wesentlich
besser.
Margaret
Rose Koenn spielte gleichzeitig noch das Gespenst von Großmutter Tzeitel
und war als solche wesentlich überzeugender. Das zweite Gespenst, Fruma
Sarah, wurde von Bernd KAISER gespielt, der sich wirklich gut als schrill
kreischende Schreckschraube machte. Überhaupt war "Tevyes Traum" eine
der ausdrucksstärksten Szenen dieser Aufführung.
Etwas
überzeichnet wurden der Rabbi (Lawrence JORDAN), sein Sohn Mendel (Stefan
STEINBAUER) und die Heiratsvermittlerin Jente (Stephanie THEISS), aber
ein Stück wie "Anatevka" hat ein bißchen Comic Relief auch bitter nötig.
Und Steinbauers hysterisches "Ein Anarchist!" als Kommentar auf sämtliche
Äußerungen Perchiks werde ich so schnell nicht vergessen.
Weiterhin
war die gute Idee da, eine ganze Reihe kleinerer Rollen ebenfalls mit
Schauspielern statt Sängern zu besetzen. Darunter zu leiden hatte nur
"Das Gerücht", das größtenteils von Nebenfiguren gesungen wird. Hier war
deutlich zu merken, daß nur wenige ausgebildete Sänger auf der Bühne standen.
Etwas ärgerlich war der Versuch der meisten Darsteller, Deutsch mit jiddischem
Akzent zu sprechen, da es nur Wenigen ansatzweise gelang (zum Beispiel
Jente). Lazar Wolf (Malte GODGLÜCK) war hier eine angenehme Ausnahme.
Überhaupt wirkt er als einer der wenigen Darsteller an diesem Abend natürlich,
während sonst sehr viele zu aufgesetzt spielten.
Souverän
an die Wand gespielt und gesungen, wurden jedoch alle ohne Ausnahme von
Monte JAFFE (Tevye) und Monika MAYER (Golde). Beiden gelingt eine großartige
schauspielerische Darstellung ihrer jeweiligen Rollen. Tevyes Gespräche
mit Gott sind eine große Freude und bieten Anlasß zu Heiterkeit, selbst
wenn man sie schon auswendig kennt. Eine der besten Szenen war weiterhin
Goldes Gespräch mit Jente; komisch zwar, aber es gelingt beiden, diese
Szene nicht zu übertreiben und ernst zu bleiben, wo es angebracht ist.
Auch sängerisch bringen Tevye und Golde Glanzleistungen auf die Bühne.
Erwähnt sei hier Tevyes "Wenn ich einmal reich wär'", daß sämtliche meiner
hohen Erwartungen erfüllen kann.
Eine
Freude war auch das Orchester unter Batholomew BERZONSKY. Tatsächlich
gelingt es Klarinettisten und Geigern, ihrem Spiel ein wenig den Klang
von Klezmer-Musik zu verleihen. Nur warum sich Berzonsky soviel Freiheit
mit der Partitur erlaubt hat, kann ich nicht verstehen. Und warum streicht
man bitte das letzte Stück? Ein Musical kann doch nicht auf Sprechtexte
enden.
Alles
in allem war die Aufführung nicht schlecht, aber ich bin davon überzeugt,
daß es besser gegangen wäre. Begeisterter Applaus des Premierenpublikums
an Sänger, Schauspieler und Tänzer; völlig unverdienter Applaus an Regisseur,
Choreograph und Kostümbildner. Andere Leute würden für soviel Abschreiben
mächtig Ärger bekommen. NG
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