Erstaufführung
Philip
Glass (geb. 1937) und Steve Reich (geb. 1936) sind die wichtigsten Komponisten
der amerikanischen minimalistischen und repetitiven Musik. Nach Studium
an der Julliard-School hat Glass zwei Jahre an der "Scola Cantorum" in
Paris bei Nadia Boulanger studiert. Seine Technik der repetitiven Musik
scheint bei erstem Hören sich endlos zu wiederholen, doch man bemerkt
bald, daß winzige musikalische und rhythmische Veränderungen zu ganz anderen
Übergängen, Themen und Entwicklungen führen. Nach einiger Zeit ist man
richtig fasziniert von dieser Musik. Man muß aber sehr genau hinhören!
Das
Textbuch ist nach dem gleichnamigen Roman von Jean Cocteau (1889-1963)
adaptiert. Cocteau war einer der wichtigsten französischen Surrealisten
des 20. Jahrhunderts. Und vor allem "Dichter" - eine Bezeichnung, auf
der er fest bestand. Ob Romane, Film-Drehbücher ("Orphée", "La Belle et
la Bête", "L'éternel retour"), Theaterstücke, Libretti für Opern ("Oedipus
Rex") oder Ballette ("Parade"), nannte er alle seine Werke "Poésie". Er
hatte auch Einfluss auf die Werke anderer, vor allem die Gruppe "Les Six",
aber auch auf Maler, wie Picasso oder die Parfum- und Modeschöpferin Coco
Chanel. Seinen Roman "Les Enfants terribles" (1929) adaptierte er bereits
1950 für einen Film von Jean-Pierre Melville. Eine Theaterschule in Paris
ist nach dem Roman "Les Enfants terribles" benannt.
Philip
Glass hat mit Susan Marshall Cocteaus Roman als Operntext adaptiert. Die
Schwierigkeit war das für Cocteau typische Gleichgewicht zwischen Realität
und Traumwelt beizubehalten. Die 80-Minuten Kammeroper wurde 1996 im Kasino-Theater
in Zug (Schweiz) uraufgeführt und verwendet als musikalisches Aufgebot
einzig drei Klaviere und drei Sänger und einen Sprecher - Sänger. Daß
Cocteau ein langjähriger Opium-Raucher und homosexuell war, muß man in
seinem Werk berücksichtigen. Die Geschichte läßt in ihrem skurrilen Inhalt,
Rahmen und den Hauptpersonen (zwei Halbwüchsige) am ehesten noch an Brittens
"Turn of the Screw" denken.
Die
reichlich morbide Geschichte spielt in der großen Pariser Wohnung der
Geschwister Elisabeth (17) und Paul (15), die eine ausschließliche gegenseitige
Bewunderung, eine fast inzestuöse Haßliebe verbindet, was bewirkt, daß
sie zwar unzertrennlich sind, aber auch ständig streiten. Sie leben in
einer morbiden Traumwelt, die von Symbolen gelenkt wird, die nur ihnen
bekannt sind. Ihr Zimmer ist ein "Heiligtum", mit einem "Altar" und einer
Metallschachtel, dem "Schatz", dessen Inhalt und Sinn nur die beiden Geschwister
kennen, die allen möglichen Kram beinhaltet, u. a. tote kleine Krebse
und eine Pistole. Sie haben auch bestimmte Riten, die nur sie verstehen:
so hypnotisieren sie sich oft gegenseitig.
Die
Oper beginnt mit einer Schneeball-Schlacht, in der Paul durch Dargelos,
einem von Paul bewunderten Schulfreund, verwundet wird. Ein anderer Freund,
Gérard, bringt Paul nach Hause. Elisabeth, die in der Zwischenzeit die
kranke Mutter pflegte, beschimpft beide fürchterlich. Man glaubt, daß
der Bruder sterben wird, doch der hypochondrische, schwächliche Paul erholt
sich. Die Mutter stirbt, und die Geschwister sind sich selbst überlassen.
Nach einem weiteren Streit will Elisabeth ausziehen und selbst Geld verdienen.
Paul macht sich natürlich über sie lustig. Gérard findet ihr einen Job
in einem Modehaus, wo sie durch Gérards Bekannte Agathe als "Mannequin"
eingeführt und ausgebildet wird. Durch Gérard lernt Elisabeth auch einen
reichen Amerikaner, Michael, kennen. An der Côte d'Azur heiratet sie ihn.
Er stirbt jedoch am Tag darauf, ohne daß die Ehe konsumiert wurde (Michael
stirbt auf derselben Strasse zwischen Cannes und Nizza und auf die selbe
Weise wie die damals berühmte Tänzerin Isadora Duncan, die 1927 von ihrem
langen Schal erdrosselt wurde, der sich in den Radspeichen ihres Kabrioletts
verfangen hatte. Cocteaus Roman erschien 1929!).
Elisabeth
erbt Michaels Vermögen, u. a. ein großes Jugendstil-Palais, wo auch Paul
mit dem "Schatz" einzieht. Gérard und Agathe gesellen sich ebenfalls dazu,
in je einem der 18 Zimmer dieses riesigen Hauses ein. Agathe sieht Dargelos
zum Verwechseln ähnlich, und Paul verliebt sich natürlich in sie, fürchtet
sich aber, sie anzusprechen. Und vice-versa gilt dies für Agathe Paul
gegenüber. Als Elisabeth dies erkennt, fürchtet sie ihren Bruder zu "verlieren"
und spinnt einen machiavellischen Plan, wie eine Parze in einer griechischen
Tragödie. Wie in jeder Tragödie endet dies in einer Katastrophe. Sie entlockt
beiden das Geheimnis ihrer Liebe, zerstört aber Pauls Brief (per Rohrpost
an Agathe gesandt!), bevor er in Agathes Hände fällt. Ihr Versuch, Agathe
mit Gérard zu verkuppeln, scheitert, denn es fehlt den beiden sichtlich
die Lust dazu…
Von
einer Reise zurück, erzählt Gérard, daß er Dargelos in Marseille getroffen
habe und dieser ihm zwei Knollen indischen und chinesischen Gifts gegeben
hat. Das Zeug stinkt scheußlich, aber Paul riecht fest daran und verfällt
in eine tiefe Ohnmacht, ebenso wie Agathe und beide sterben daran. Schließlich
erschießt sich Elisabeth mit dem Revolver aus dem "Schatz". Der Schluß
ist ziemlich schwierig zu verfolgen, da Elisabeth in einem hysterischen
Anfall in einem parlando Wortschwall prestissimo singt, den Gérard als
Sprecher kommentiert.
Dem
Direktor der Oper in Bordeaux kann man einiges an Mut attestieren, dieses
ungewöhnliche Werk aufs Programm gesetzt zu haben. Direktor Thierry Fouquet
führt dies jede Saison mit Ausdauer und Erfolg aus (im Vorjahr "Die Schule
der Frauen" von Liebermann). Als Co-Produktion mit dem Teatro Arriaga
in Bilbao wurde die Kammeroper in Bordeaux kreiert (Vorstellungen sind
im Dezember auch in den Kleinstädten Agen und Bergerac vorgesehen!). Die
Aufführung war ein durchschlagender Erfolg, dank eines außergewöhnlich
zusammen passenden Teams.
Die
musikalische Leitung hatte Emmanuel OLIVIER inne, der selbst vom 1. Klavier
dirigierte. Der Regisseur Stéphane VÉRITÉ zeichnete für Inszenierung,
Bühne und Beleuchtung. Die szenische Behandlung der Bühne war ungewöhnlich
geschickt und gekonnt gemacht. Mittels kluger Beleuchtung und der geschickten
Verwendung von überlegten Video-Projektionen von Romain SASSO, konnte
Stéphane Vérité die jungen Sänger durch das Dickicht der morbiden Handlung
leiten, ohne daß die kleinste Tendenz zum Outrieren aufkam. In diesem
Rahmen konnten sich die durchwegs jungen Sänger, dank einer beispielhaften
Personenführung, sehr vorteilhaft dem Publikum vorstellen. Die hübschen,
einfachen Kostüme von Hervé POEYDOMENGE trugen zum Erfolg der Aufführung
bei und ergaben sehr gelungene Bilder.
Die
1. Szene der Schneeball-Schlacht taucht den Zuschauer gleich zu Beginn
in die traumhafte Atmosphäre der Oper, dank eines wunderbaren Videos,
das bereits während des Vorspiels beginnt. Das "Heiligtum" ist ein großes
Zimmer mit projizierter gotischer Decke, zahlreichen Ausschnitten von
Film-Illustrierten an der Wand als "Altar" und davor die beiden Betten.
Die Heirat und der Unfall Michaels werden sehr anschaulich während einer
Zwischenmusik in einem dezenten Video eines schwarz-weissen Schattenspiels
auf einen großen Spiegel projiziert. Die Szene im Stadtpalais spielt vor
einer imposanten Glasveranda mit einigen Luxusmöbeln, während Elisabeths
"Status-Wechsel" mit einem raffinierten goldenen Mantel angedeutet wird.
Die
wichtigste Rolle ist natürlich die ältere Schwester Elisabeth, die Drahtzieherin
der Geschichte, von Chloé BRIOT (ganze 24 Jahre alt) mit schöner Stimme
und unglaublicher Ausdruckskraft einfach hinreißend gestaltet. Vor allem
das parlando am Schluß - man muß an Monteverdi denken - beherrschte sie
absolut perfekt. Ein großes Talent! Ihr jüngerer hypochondrischer Bruder
Paul, der hauptsächlich im Bett herum lümmelt, war Guillaume ANDRIEUX
und ist nur drei Jahre älter. Sein angenehmer Bariton zeigte sich der
recht undankbaren Rolle völlig gewachsen. Man hatte irgendwie Mitleid
mit ihm, der von der schimpfenden älteren Schwester ständig schikaniert
wird.
Elisabeths
ungewollte Gegenspielerin Agathe, die dem vergötterten Schulfreund Dargelos
so ähnelt - den sie im 1. Bild spielt - war durch Amaya DOMINGUEZ vorteilhaft
verkörpert, eine attraktive Mezzosopranistin mit schöner runder Stimme.
Mit großer Zurückhaltung spielte sie die Liebesängste der jungen Frau.
Olivier DUMAIT fungiert als der antike Chor der griechischen Tragödie,
denn er interveniert meist als Sprecher, der die Handlung kommentiert.
Und gerade diese Kommentare waren nicht übertitelt. Das war ein Fehler,
denn ohne Verstärkung war er schwer verständlich, besonders wenn die drei
Pianisten in ffff auf ihre Steinways dreschen. Er zog sich aber sehr gut
aus der Affäre, wenn er seinen angenehmen Tenor als Gérard verwendete.
Die
drei Pianisten waren der musikalische Leiter des Abends, Emmanuel Olivier,
sowie die lokalen Korrepetitoren Jean-Marc FONTANA und Françoise LARRAT.
Alle Achtung! Man kann jedem Haus nur wünschen, solche Künstler als Korrepetitoren
zu haben! - Eine äußerst gelungene Aufführung eines ungewöhnlichen Werks,
das noch dazu vom Publikum mit großem Beifall aufgenommen wurde! Denkwürdig!
wig.
P.S.:
Die Oper wurde von Radio France aufgenommen und am 15. 12. von France
Musique im Rundfunk gesendet.
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