Immerhin
hat es 106 Jahre nach der Brünner Uraufführung 1904 gedauert, bis Janáceks
"Jenúfa" es bis nach Bordeaux geschafft hat. Dabei fand die französische
Erstaufführung schon 1974 in Lyon statt, aber in französischer Sprache,
denn tschechisch singende Sänger waren damals eher selten. Seither gab
es zahlreiche Aufführungen in Paris und an allen Ecken von Frankreich,
besonders die prächtige Produktion 2007 in Nantes mit Guryakova in der
Titelrolle, die kürzlich in Marseille wieder aufgenommen wurde.
Janáceks
"Jenúfa" hat es schwer gehabt, denn das Prager National-Theater brauchte
zwölf Jahre, bevor die Oper 1916 gespielt wurde. Zwei Jahre später hatte
"Jenúfa" Premiere an der Wiener Hofoper in der Übersetzung von Max Brod
mit Maria Jeritza in der Titelrolle und begann ihren Siegeszug durch die
ganze Welt - Janácek war grad 64!
Das
Problem war das naturalistische Libretto, das Janácek nach dem Theaterstück
"Ihre Stieftochter" von Gabriela Preissova adaptiert hatte. Das Drama
hatte zwar bereits 1890 in Prag seine triumphale Uraufführung, von der
tschechischen Dramaturgin nach zwei Zeitungsberichten verfaßt, wurde aber
nach fünf Aufführungen abgesetzt. Eine Hetz-Kampagne der lokalen Presse
erklärte das Stück als "schmutzig" und "verkommen". Das erklärt vermutlich
auch die lange Wartezeit für Janáceks Oper in Frankreich, denn "Jenúfa"
wurde als eine Art mährische "Cavalleria rusticana" angesehen und der
Komponist eher als "folkloristisch" eingestuft. Trotz der überwältigenden
Modernität der Musik dieses Werkes, die direkt zu "Wozzeck" führt.
Die
sehr geglückte Produktion kam von der Oper in Monte-Carlo. Die völlig
"normale" Inszenierung von Friedrich MEYER-OERTEL ist beispielhaft! Der
Regisseur hat in keiner Weise versucht, die eher banale Geschichte zu
"deuten", sondern beschränkte sich auf das Hauptproblem, die gegenseitige
Abhängigkeit von Jenúfa und Kostelnicka, sowie den gesellschaftlichen
Druck, unter dem beide leiden, und an dem sie schließlich zerbrechen.
Das einfache Bühnenbild und die hübschen Kostüme von Heidrun SCHMELZER
waren dabei sehr erfreulich. Im 1. Akt sieht man eine leicht hügelige
Fläche, die im 2. Akt von einem riesigen Holzdach überdeckt wird, unter
dem Jenúfa an einer alten Tret-Nähmaschine für ihr Kind näht. Im 3. Akt
wird die Nähmaschine durch eine "Festtafel" ersetzt. Die Bauernmädchen
waren einheitlich in kleidsame blaue Kleider und die Burschen in graue
Jacken gekleidet. Die von Hanns HAAS erstellte Beleuchtung war äußerst
passend; sehr schön war die große Szene Jenúfas im 2. Akt im Mondlicht,
das durch ein Klapp-Fenster im Dach hereinfällt. Alles unauffällig und
passend, es geht also auch so.
Karen
KAMENSEK am Pult war die Sensation des Abends. Die junge amerikanische
Dirigentin hatte hier vor zwei Jahren eine sehr schöne Produktion von
"Idomeneo" geleitet und war für ein Konzert des ORCHESTRE NATIONAL BORDEAUX-AQUITAINE
eingesprungen, das sie mit einer hinreißenden Darbietung von Debussys
"La Mer" beschlossen hatte. Sie hat mit Janáceks Werk und dem Orchester
ein sehr gutes Einverständnis, vielleicht, weil sie eine Frau ist. Ihr
Dirigat war besonders intensiv, und sie brachte die musikalische Dramatik
des Werkes sehr differenziert zur Geltung, wie die vielen ostinaten, schicksalshaften
Stellen der schwierigen Partitur, die sie zum ersten Mal dirigierte! Ganz
großartig war das mit dem Blechchoral an die (spätere) "Sinfonietta" erinnernde
apokalyptische Finale, das Karen Kamensek hervorragend steigerte. Ihre
Begleitung der Sänger war beispielhaft, zumal es für mehrere Sänger ein
Rollendebüt war. Der CHOR DER OPER VON BORDEAUX unter der Leitung von
Jacques BLANC war hervorragend und nahm sehr erfreulich an der Handlung
teil.
Mireille
DELUNSCH in der Titelrolle war großartig. Die blonde Elsässerin hat mit
ihrer Gestaltung der Jenúfa ein eindrucksvolles Rollendebüt und eine neue
schwierige Charakter-Rolle in ihre lange Liste eingeschrieben. Das ist
sehr erfreulich, denn die Sängerin hat in den letzten Jahren mehrere Fehler
begangen (Elsa und Violetta sind ziemlich schief gegangen). Ihre Stimme
ist schwerer geworden und zeigt nun sehr viel dramatischen Ausdruck, wie
in dem innigen Gebet des 2. Akts oder in der Versöhnungsszene mit Laca.
Daß sie sehr gut spielt und ebenso gut aussieht, ist natürlich ein großer
Vorteil.
Ebenso
eindrucksvoll war Hedwig FASSBENDER als Kostelnicka. Die deutsche Mezzosopranistin
hatte auch etwas "am Strang gezogen" und sich ins hochdramatische Fach
gewagt, was der Stimme nicht gut bekommen ist. Mit der Rolle der Küsterin
hat Fassbender das Charakterfach gewählt, das sie zwar stimmlich an die
Grenzen ihrer Möglichkeiten bringt (vor allem in den Höhen). Ihre sehr
intensive Darstellung der Rolle hinterließ jedoch einen hervorragenden
Eindruck. Die dritte Frauenfigur ist die Grossmutter Buryjovka, der Sheila
NADLER hier einen eher versöhnlichen Charakter gab. Wir hatten sie bereits
vor drei Jahren in dieser Rolle gesehen in Nantes, und damals war die
Gestaltung viel härter.
Bei
den Herren ist in erster Linie der Laca zu nennen, dem Stuart SKELTON
eine sehr heldentenorale Darstellung gab (er hat bereits Parsifal und
Tristan gesungen). Die riesige Stimme des Australiers trägt sehr gut,
und sein Spiel zwischen tiefer Liebe und Eifersucht ist sehr überzeugend.
Namen merken! Gregory TURAY gab dem Števa die passende Darstellung des
leichtsinnigen und wohlhabenden Dorf-Schönlings, der Verantwortung scheut,
und der selbst am Schluß nicht klüger geworden ist. Ein wenig zerknirscht
ist der Amerikaner schon, wenn Kostelnicka ihn im 2. Akt auf den Knien
bittet, Jenúfa zu heiraten.
Die
kleineren Rollen waren auch mit guten Sängern besetzt. Der Müller-Gesell
von Jean-Manuel CANDENOT, ein lokaler Bariton, der bereits in Bordeaux
mehrmals sehr guten Eindruck hinterlassen hat, war sehr passend. Ein eingebildeter
Bürgermeister war Jean-Philippe MARLIÈRE und Marie-Thérèse KELLER seine
überhebliche, keifende Gattin. Laure CRUMIÈRE sang schnippisch deren hübsche
Tochter Karolka. In den kleinen Rollen war Aurélie LIGEROT als Schäferbub
Jano passend, ganz glücklich darüber, daß Jenúfa ihm das Lesen beibringt.
In kleinen Rollen waren Olga FEDOROVA (Magd), sowie vier Chormitglieder,
Eve Christophe-FONTANA (Barena), Florica Marilena GOYA (Bäuerin), Maryelle
HOSTEIN (Tante) und Loick CASSIN (alter Bauer), durchweg rollendeckend.
Thierry
Fouquet, der Direktor der Oper in Bordeaux, hat es gewagt, nach mehreren
Erstaufführungen ein weiteres, schweres Werk dem eher konservativen Publikum
zu bieten, das aber die Initiative enthusiastisch aufnahm. Stürmischer
Applaus für alle Künstler, besonders für Delunsch und Fassbender, sowie
für die zarte Karen Kamensek, die zwischen den beiden großen Tenor-Recken
um zwei Köpfe kleiner war... wig.
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