UNGEWÖHNLICHE "WINTERREISE"

Schuberts "Schöne Müllerin", "Schwanengesang" und "Die Winterreise", ebenso wie Schumanns "Dichterliebe" gehören zu den absoluten Höhepunkten der deutschen Romantik. Wilhelm Müllers Text ist zwar etwas sentimental, aber so typisch für die Zeit des "Sturm und Drangs". Goethe hatte den Spleen junger Männer einige Jahre vorher in den "Leiden des jungen Werther" verewigt und eine pan-europäische Selbstmord-Epidemie ausgelöst. An diese typisch maskuline Empfindlichkeit wagen sich im Allgemeinen nur ganz außergewöhnlich intelligente und sensible Sänger, meistens Baritone (wie Hotter, Fischer-Dieskau, van Dam, Goerne, Gerhaher, Hampson oder Henschel), obwohl auch große Tenöre sich an Schuberts Vermächtnis versucht haben (Dermota, Patzak, Svanholm, Schreier oder Wunderlich und demnächst Kaufmann).

Einige wenige Sängerinnen haben sich "getraut", meist Mezzos wie Ludwig oder Fassbaender oder Altistinnen wie Nathalie Stutzmann. Aber einen lyrischen Sopran hatte man noch nicht erlebt. Seit ihrem ersten Auftritt bei den Salzburger Festspielen 1983 in Brahms' "Deutsches Requiem" unter Karajan, hat sich die Sopranistin aus Arkansas mit der Wiener Klassik auseinander gesetzt. Denn Barbara HENDRICKS hat das Abenteuer gewagt, Schuberts Vermächtnis nicht nur zu singen, sondern zu einem großartigen Erlebnis zu gestalten. Die amerikanisch-schwedische Sängerin hat sich sichtlich und hörbar sehr intensiv mit Text und Musik der "Winterreise" befaßt, denn das Ergebnis ist mehr als beeindruckend.

Die beliebte, vielseitige, eigenwillige, polyglotte und sehr unabhängige Sängerin hat sich einen besonderen Namen gemacht, als sie mitten im Jugoslawien-Krieg, 1991 Konzerte in Dubrovnik und 1993 in Sarajewo gab, nachdem sie sich bereits für die internationale Flüchtlings-Organisation UNHCR und für UNCEF eingesetzt hatte. Vor vier Jahren gründete Barbara Hendricks ihre eigene Platten-Firma "ARTE VERUM", mit der sie Musik aufnimmt, die ihr besonders zusagt, mit Künstlern, mit denen sie sich versteht, unabhängig von den "Majors". Seit einigen Jahren tritt sie auch beim Montreux Jazz Festival auf.

Nach mehreren Konzerten in französischen Mittel-Städten, hat die sympathische Sängerin im Grand Théâtre in Bordeaux halt gemacht, bevor sie ihre Tournee im Paris im Théâtre des Champs Elysées beendete.

Da es in Frankreichs Konzertsälen immer stockdunkel ist, rezitierte Barbara Hendricks vor einigen Liedern immer Verse dieser Lieder in französischer Übersetzung sehr ergreifend - obwohl der Text im zweisprachigen Programm abgedruckt war. Das Konzert fand vor Projektionen verschneiter Landschaften, winterlichen Bäumen und abstrakten Bildern statt, für die Ulf ENGLUND verantwortlich zeichnete. Über den Bedarf dieses Hintergrunds kann man natürlich geteilter Meinung sein.

Barbara Hendricks hat die Schwierigkeiten sehr gewandt und künstlerisch einwandfrei gelöst. Ihre angenehme und volle Stimme ist nach wie vor prächtig ausdrucksvoll, trägt ausgezeichnet und ihre Phrasierung ist perfekt. Barbara Hendricks singt mit Herz und Stilgefühl, und es besteht nie Gefahr in Sentimentalität abzugleiten. Sie singt sehr innig die romantisch-lyrischen Lieder wie "Gute Nacht" oder " Der Lindenbaum", froh, mit einem gewissen Schwung " Die Post", "?Im Dorfe" oder "Mut". "Gefror'ne Tränen" war besonders durchdacht und ergreifend, ebenso wie die tragischen Lieder "Irrlicht", "Die Wetterfahne", "Der Wegweiser", "Die Nebensonnen" oder "?Der Leiermann" mit besonderen Steigerungen. Einfach großartig! Barbara Hendricks ist es gelungen, die spezifisch maskuline Empfindlichkeit der "Winterreise" zu sublimieren und zum Absoluten zu führen.

Der Begleiter am Steinway war Love DERWINGER, der etwas enttäuschte, da er zu wenig ausdrucksvoll und etwas routiniert spielte. Doch nicht jeder begleitende Pianist ist ein Demus, Brendel oder Baldwin.

Ein denkwürdiger Abend. Das Publikum bereitete Barbara Hendricks eine "standing ovation", die eine Zugabe gab, Schuberts "Ave Maria". wig.