Vor
etwa fünfzig Jahren waren Theater und Film stark vom Surrealismus beeinflußt.
Paris war eines der Zentren dieses surrealistischen und absurden Theaters
mit anarchistischen Untertönen, wo Ionesco, Arrabal, Beckett, Koltès,
Bunuel, Genet und andere den Ton angaben. Aber die Dramaturgie einer Oper
ist nicht dieselbe wie die eines Theaterstücks oder Films. Und das ist
die größte Schwierigkeit, die Peter Eötvös in seinen Opern bewältigen
muß. In anderen gesehenen Opern des ungarischen Komponisten ("Die drei
Schwestern", nach Tschechows Theaterstück und "Angels in America", nach
einem siebenstündigen Fernseh-Drama von Tony Kushner) ist eine übertragbare
Dramaturgie vorhanden. Diese ist viel schwieriger in dem Stück von Jean
Genet "Le Balcon" zu finden. Zumal der groteske Text an Brechts "Lehrstücke"
denken läßt, aber nicht mit drohendem Zeigefinger, sondern verzweifelt
über das Scheitern und Rekuperation der Revolution.
Nicht
daß die höchst phantastische Atmosphäre störend wäre - phantastische Opern
gibt es viele, aber zeigen oft ein dramatisches Defizit. Auch Revolutions-Opern
findet man oft. Hier ist jedoch das dramatische Skelett des Stücks minimal.
Peter Eötvös löste das Problem mit Erfolg. Die typisierten Figuren der
bürgerlichen Gesellschaft (Bischof, Richter, Henker) sind grotesk und
völlig eindimensional, ebenso wie die "Helden" der Revolution (Chantal,
Roger). Einzig die Puffmutter Irma und der Polizeichef kann man als "menschliche
Wesen" bezeichnen.
Peter
Eötvös (geb. 1944) wurde mit vierzehn Jahren Schüler von Zoltán Kodály
und János Viski an der Franz-Liszt-Akademie in Budapest. Er improvisierte
auf mehreren Instrumenten in Bars, Kinos und Film Studios. Er erhielt
1970 ein Stipendium, um mit K.-H. Stockhausen und B. A. Zimmermann in
Köln zu studieren. Boulez rief ihn 1978 ans IRCAM nach Paris, um das Ensemble
Intercontemporain zu leiten. Eötvös unterrichtete auch in Freiburg und
Köln und war "Composer in residence" in verschiedenen Städten, u. a. sechs
Monate lang in Osaka, wo er sich mit der klassischen japanischen Musik
befassen konnte. Selbst als Dirigent bekannt, arbeitet Eötvös immer intensiv
mit den Dirigenten und Regisseuren seiner Werke zusammen.
Die
vielfachen Einflüsse, denen der Komponist ausgesetzt war, haben ihm einen
entsprechend weiten musikalischen Horizont eröffnet. Deshalb verwendet
Eötvös in der 2002 beim Festival in Aix uraufgeführten und 2004 revidierten
Oper nicht nur die Musik seiner ungarischen Wurzeln von Kodály und Bartok
bis Kurtag und die im IRCAM übliche Elektronik, sondern auch seine Erfahrungen
seiner jungen Jahre in Kino, populärer Musik und Jazz. Sein Interesse
für elektronische Musik und ungewöhnliche Klangverbindungen ist offenbar.
Gleich am Anfang hatte ich "Gassenhauer für Orchester" und "Maschinengewehrfeuer
hinter der Szene" notiert.
Für
ein kleines Instrumental-Ensemble geplant, kommen Instrumentalisten auf
die Bühne, alle mit einem beleuchteten Lampenschirm als Kopfbedeckung:
eine mit Schalltrichter versehene Violine, eine Kontrabaß-Klarinette,
ein Hornist auf einem Hochsitz und ein herum wandelnder Trompeter, der
meist mit gestopftem Instrument spielt. Das Kammerorchester wird durch
eine Hammond-Orgel und eine Harfe unterstützt. Sehr oft wird Sprechgesang
verwendet, fast wie das Secco-Rezitativ in der vor-klassischen Oper. Der
Gegensatz zwischen dem im Hintergrund brauenden Aufstand und der "gepflegten"
Atmosphäre des Bordells "Le Grand Balcon" - wo Bischof, Richter und General
ein- und ausgehen - ist bestimmend im dramatischen Aufbau der Oper.
Der
Polizeichef ist der "Beschützer" des Bordells. Das Libretto von Françoise
Morvan, André Markowicz und Eötvös selbst, arbeitet die Dichotomie zwischen
"bürgerlichem Drama" und Revolution heraus, die mit dem Tod der Passonaria
Chantal im 8. Bild seinen Höhepunkt findet und mit der Machtergreifung
des Polizeichefs im 10. (letzten) Bild das Gegenstück.
Das
schwierige Werk Eötvös' kommt sehr gut über die Bühne. Das ist der hervorragenden
und ausnehmend kohärenten Aufführung zu verdanken, denn es ist selten,
daß Bühne und Orchestergraben derartig perfekt verzahnt sind. Obwohl auf
Französisch gespielt wurde, war klugerweise die ganze Oper übertitelt.
Daß der Musikdirektor von Bordeaux, Kwamé RYAN, ein Schüler des Komponisten
in Freiburg war, half natürlich. Er ist mit dem schwierigen Werk sichtlich
und hörbar bestens vertraut. Ryan hat ausserdem mit schwierigen modernen
Werken keine Schwierigkeiten: er hatte u. a. 2004 in der Pariser Bastille-Oper
das Werk eines anderen Eötvös-Schülers uraufgeführt, Matthias Pintschers
"L'espace dernier". Die 26 Musiker des ORCHESTRE NATIONAL BORDEAUX-AQUITAINE
ließen sich von ihrem Chef mit offenbarer Begeisterung leiten.
Die
gut durchdachte Inszenierung von Gerd HEINZ war maßgeblich für den Erfolg
der Aufführung verantwortlich. Der deutsche Regisseur hat sich vornehmlich
an die theatralische Seite gehalten, um die absurde Handlung mit viel
Gefühl und Verstand dem Publikum zu vermitteln. Dabei war er von Stefanie
SEITZ sehr wesentlich unterstützt, die für Bühnenbild und Kostüme zeichnete.
Das Bühnenbild bestand aus einem großen, feuerroten und drehbaren Zylinder,
der mehrere Aussparungen hat, z.B. ein großes rundes Fenster, das den
Blick auf das Büro des Bordells freigibt oder eine riesige halbrunde Stiege,
auf der im 2. Teil die Honoratioren auf- und abgehen. Ein wichtiges Versatzstück
ist ein großer runder Spiegel, der den Herren vorgehalten wird oder in
dem sie sich bewundern. Das Bühnengeschehen wurde vorteilhaft durch die
kluge Beleuchtung von Eric BLOSSE unterstützt.
Die
Sängerinnen waren durchwegs junge Künstlerinnen, während die Männer meist
alte Routiniers waren. Die einzige wirkliche Hauptrolle ist die Bordell-Besitzerin
Irma, die dann "Königin" wird. Die junge Schweizerin Maria Riccarda WESSLING
gestaltete sowohl stimmlich als auch darstellerisch die Rolle souverän.
Sie besitzt nicht nur einen gut geführten Mezzosopran, den sie sehr vorteilhaft
in der schwierigen Rolle einsetzte, sondern sie spielte auch sehr klug
die zweifelhafte Persönlichkeit. Ihre Sekretärin Carmen und Pensionistin
des Puffs, mit der sie auch noch ein Verhältnis hat, wurde von der großen,
hübschen und schön singenden Melody LOULEDIAN in feuerroter Bluse gesungen
und sehr glaubhaft dargestellt.
Chantal,
die Rädelsführerin der Aufständigen, die nur im 2. Teil auftritt, erhielt
durch Magdalena Anna HOFMANN eine exemplarische Darstellung. Ihre große
dramatische Stimme setzte sie bestens ein und spielte mit großem Einsatz.
Da Chantal im 1. Akt nicht auftritt, wurden ihr auch die drei kleinen
Rollen der Mädchen, die ihre Klienten im Bordell empfangen, anvertraut.
Besonders als Diebin in der Konfrontation mit dem perversen Richter war
sie sehr beeindruckend. In der Szene mit dem General trug sie einen stilisierten
Pferdekopf, was diesen bewegte auf ihr reiten zu wollen!
Die
Herren sind durchwegs Comprimarii, da sie nur je eine wirkliche Szenen
haben. Der Polizeichef, Protektor und Freund Irmas, ist die zweite "tragende",
aber nicht sehr große Rolle, der nach der Revolution im richtigen Augenblick
die Macht an sich reißt. Jean-Manuel CANDENOT, den wir auch schon mehrmals
hier erlebt haben, spielte und sang hervorragend den größenwahnsinnigen
Arrivisten. Sehr eindrucksvoll war der hünenhafte Jacques SCHWARZ als
Bischof, noch dazu mit einer riesigen Bischofs-Mitra gekrönt, der seinen
großen schwarzen Baß gut einsetzte. Als grotesker perverser Richter punktete
Julius BEST, der mit seinem hohen Tenor der lächerlichen Figur Statur
verlieh.
Ein
alter Bekannter war Armand ARAPIAN als General, der als eitler Hyper-Patriot
seinen Ruf für ausgefallene Rollen bestens unter Beweis stellte. Als Chef
der Aufrührer Roger war Thomas DOLLÉ mit warmem Kavalier-Bariton zwar
ein hoffnungsloser Revolutionär, aber ein rührender Liebhaber Chantals.
Ausgezeichnet was der Hofbote von Nigel SMITH, der den Tod der Königin
in einer äußerst komischen Koloratur-Szene kommentierte. Als Henker und
Zuhälter Arthur war Till FELLNER rollendeckend.
Selbst
das eher konservative Publikum von Bordeaux war begeistert - obwohl auch
ein paar Zuschauer in der Pause das Haus verlassen hatten. Ein riesiger
Erfolg für alle Sänger und vor allem für Kwamé Ryan, der sehr gefeiert
wurde. wig.
|