"UM DIE GROßEN KASTRATEN FARINELLI UND CARESTINI"

Am nächsten Tag gab es eine spätbarocke Fortsetzung: der erst dreißigjährige Star der Contra-Tenöre? Philippe JAROUSSKY und das ENSEMBLE ARTASERSE sind auf einer Tournee durch Frankreich und haben im prachtvollen, äußerst passenden Rahmen des Grand Théâtre (1780 gebaut und vor zwanzig Jahren auf Glanz renoviert!) halt gemacht. Das zehnköpfige Ensemble spielt ohne Dirigenten stehend und begann mit der kurzen Ouvertüre aus Händels "Alessandro Severo", gefolgt von zwei typischen A-B-A da capo Arien aus Giacomellis "La Merope". "Dono d'amica sorte" beginnt recht rasant und erlaubte Jaroussky gleich sein ungewöhnliches Talent zu zeigen, während der langsame B-Teil Anlaß war, die lyrischen Akzente zu pflegen. Im Gegensatz dazu beginnt "Sposa non mi conosci" als Largo, während das Zwischenstück ein flottes Arioso ist.

Vivaldis Fagottkonzert (RV 477, C-Dur) wurde von Ensemble-Mitglied Nicolas ANDRÉ auf einem barocken Fagott (mit nur zwei Klappen!) souverän gespielt. Der Solist wurde vom basso continuo (Cello, Theorbe, Kb, Cembalo) begleitet, während die Tutti die fünf Geigen und eine Bratsche spielten. Der langsame 2. Satz ist selbst für ein Fagott sehr tief gesetzt, wo das Instrument in den Tiefen "orgelt". Ein sehr amüsantes Stück!

Jaroussky widmete sich nun dem Repertoire Carestinis, dem Star-Kastraten Händels in London nach dem Abgang des Senesino. Die Arie des Ruggiero "Mi lusinga il dolce affetto" aus "Alcina" war ein Kabinettstück des Kunstgesangs der Zeit mit seinem fast larmoyanten Adagio, dem ein flottes Arioso vor dem da capo folgte. Der 1. Teil des Konzerts schloß mit "Sento con qual diletto", eine fulminate Arie der Alceste, eine Travestitenrolle (Frauen waren damals im Kirchenstaat auf den Bühnen verboten!), mit Fagottsolo aus Vivaldis "Ercole sul Termodonte", von Carestini? in Rom 1723 uraufgeführt.

Nach einer kurzen Pause wurde Carestinis Repertoire weiter ausgegraben. Leonardo Leo gehörte zu den erfolgreichsten Opernkomponisten Neapels des beginnenden 18. Jahrhunderts. Die Arie "Se mi dai morte" aus der Oper "Farnace" beginnt mit einem presto-Feuerwerk von Koloraturen, dem ein rezitativer Mittelteil "Solo, inumano, non so sofrire" folgt, bevor das Feuerwerk wieder beginnt. Es ging mit Händels "Ariodante" weiter: das elegische Adagio "Scherza infida" umrahmt ein Arioso. Die langen Phrasen bedürfen einer ungewöhnlichen Stimm- und Atemtechnik, von Jaroussky souverän gemeistert.

Vivaldis Violinkonzert in d-Moll (RV 242) aus "Il Cimento dell'armonia e dell'invenzione" wird teilweise von? zwei Solo-Violinen bestritten. Der Maestro concertatore Allessandro TEMPIERI wurde dabei von Raul ORELLANA sekundiert. Besonders der 2. Satz bestach mit einem schönen wogenden Andante.

Die beiden letzten Arien aus der opera seria "Polifemo" stammen aus der Feder von Händels Gegenspieler in London, Nicola Porpora, und wurde 1835 von Farinelli im King's Theatre uraufgeführt. "Alto Giove" ist eine der beiden Arien des Acis, ein von Koloraturen gespicktes Adagio, dem ein fulminantes Allegro im Mittelteil ungewöhnliche dramatische Dichte gibt. In "Senti il fato" kommt man zum Schluß, daß nichts unmöglich ist für diesen ungewöhnlichen Sänger. Jaroussky ziselierte die Läufe mit irren Intervall-Sprüngen und Koloraturen mit phänomenaler Genauigkeit, die besonders bestechend ist an diesem außergewöhnlichen Sänger. Aber nicht nur Präzision ist es, die die Interpretation interessant macht, sondern auch der intensive Ausdruck der Stimme.

Das Publikum war völlig aus dem Häuschen und eine "standing ovation" bewirkte, daß sich Jaroussky nicht lange bitten ließ und die berühmten "Verdi prate" aus Händels "Alcina" als Zugabe bot. Der eher schüchterne junge Mann erklärte dem Publikum, daß eben diese Arie, die Carestini als für seine Kunst nicht angemessen sah (was einen Bombenkrach mit Händel bewirkte), 1735 in allen 15 Aufführungen wiederholt werden mußte! Als weitere Zugabe gab es "Son qual dolor" aus Hasses "Artaserse" - auch ein Carestini?-Stück - gespickt mit irren Koloraturen. Das Konzert beschloß Jaroussky mit einer Wiederholung von "Alto Giove", Porporas Paradestück für Farinelli?.

Ein Triumph für Jaroussky, der vom rasenden Publikum mit seinem Ensemble lautstark gefeiert wurde. wig.