Alessandro
Scarlatti (Palermo 1660 - Neapel 1725) ist der wirkliche Begründer der
Neapolitanischen Oper - er hat immerhin weit über hundert geschrieben,
neben zahllose Messen, Kantaten, Oratorien und Sonaten. Von seinen zehn
Kindern wurden zwei Söhne berühmt, der Organist von Santa Maria Maggiore
Pietro Filippo und der Cembalist Domenico, der auch ein paar Opern geschrieben
hat und hauptsächlich in Madrid tätig war. Domenico Scarlattis Sonaten
wurden vor etwa fünfzig Jahren von Ralph Kirkpatrick herausgegeben und
bekannt gemacht. Seither werden dessen Werke mit einer "K(irkpatrick)"
Nummer versehen. Vater Alessandro wirkte vor allem in Neapel, aber auch
in Rom, Florenz und Venedig. In Rom war er u. a. maestro di capella der
exilierten Königin Christine von Schweden und später des Kardinals Ottoboni.
Von Allessando Scarlattis Opern hat René Jacobs "Mitridate Eupatore" vor
etwa zehn Jahren beim Barock-Festival in Innsbruck aufgeführt und kürzlich
in Berlin und Paris "La Griselda". Auch einige Oratorien sind in den letzten
Jahren wieder ausgegraben worden.
Die
Geschichte des Oratoriums in Rom nach 1700 ist einigermaßen ungewöhnlich.
1703 fand in Mittelitalien ein großes Erdbeben statt. Dabei wurde u. a.
Norcia in Umbrien völlig zerstört, aber Rom größtenteils verschont. Papst
Clemens XI verhängte daraufhin für fünf Jahre ein Carnaval-Verbot, d.
h. keine Opern. Denn in Italien wurden Opern immer für den Karneval komponiert,
selbst noch zu Rossinis Zeiten. Die Opern-Komponisten verlegten sich daraufhin
auf religiöse Themen, vornehmlich Oratorien. Drei Jahrzehnte später handelte
Händel in England, als die Puritaner an die Macht kamen, genau so. In
beiden Fällen handelt es sich um sehr virtuose dramatische Werke. Die
selben Tenöre und Kastraten, die sich vorher in den Opern produziert hatten,
sangen vor dem Kirchenadel nun Oratorien, den Kardinälen Ruspoli, Pamphili,
Ottoboni usw. Die Kardinäle griffen oft selbst zur Feder, um die Texte
zu schreiben!
Der
italienische Musikologe und Dirigent Rinaldo ALESSANDRINI hatte die ausgezeichnete
Idee, diese total vergessene Musik hinter den Spinnweben der italienischen
Bibliotheken zu suchen, zu bearbeiten und 2005 für das Teatro San Carlo
in Neapel wiederzubeleben. Nach Aufführungen in Neapel, Brüssel und Paris
ist die Produktion nun auch in Bordeaux gezeigt worden.
Über
das 1717 komponierte Oratorium weiß man nicht viel: der Uraufführungsort
ist nicht sicher (es wird gemunkelt, daß es ein Privattheater in Florenz
oder Rom sein könnte oder die Kathedrale von Salerno) und ist vermutlich
seither nie mehr gespielt worden. Das Libretto ist möglicherweise von
Scarlatti selbst nach Metastasios "Passione" adaptiert worden. Ein sehr
pietistischer Text, eher mühsam, jedoch szenisch interessant, weil die
Ereignisse der Passion sozusagen von außen wie eine Reportage berichtet
werden. Es gibt weder einen testo, wie bei Monteverdis "Combattimento",
noch einen Evangelisten, wie später bei Brockes oder Bach. Um die zentrale
Figur Marias (Alt), die um ihren Sohn Jesus trauert, berichten drei Personen
die Ereignisse, San Giovanni (Sopran), Nicodemo (Mezzo) und der Hohepriester
Onias (Tenor). Maria kommentiert die Hiobs-Botschaften: das ganze Oratorium
ist ein zweistündiges Lamento mit verteilten Rollen, die die Aktion beleben.
Anfangs
stand ich der Inszenierung eines Oratoriums etwas skeptisch gegenüber,
zumal ja Alessandro Scarlatti weit über hundert Opern in seinem Register
hat. Doch die deutsch-französische Regisseurin Ingrid von WANTOCH REKOWSKI
hatte die ungewöhnliche Idee dieses Werk in einen "lebenden" Rahmen eines
Barockaltars hinein zu inszenieren. Sie inspirierte sich dabei bei dem
neapolitanischen Barockmaler Francesco Solimena (1657-1747), sehr typisch
für den barocken Manierismus (das Wiener Kunsthistorische Museum besitzt
ein halbes Dutzend Bilder von Solimena).
Die
Sänger in dunklen Anzügen "spielen" auf einer kleinen Bühne in diesem
Rahmen, der aus vierzehn käfig-artigen Abteilungen besteht, in denen achtzehn
Schauspieler-Statisten der Schauspielschule "La Manufacture" aus Lausanne
in entsprechenden Barock-Kostümen verschiedene biblische Szenen mimen.
Interessant ist, daß diese Statisten auf Musik und Text agieren und sich
bisweilen sehr brüsk bewegen. Die Szenographie wurde von Nicola RUBERTELLI
ausgeführt und die Kostüme stammten von Christophe PIDRÉ. Mario D'ANGIO
beleuchtete äußerst treffend diese belebte Altar-Szenerie, die äußerst
eindrucksvoll ist und dem einigermaßen eintönigen Text Leben gibt.
Musikalisch
wechseln da capo Arien, Duette, selbst ein Quartett, mit Rezitativen ab,
alle in A-B-A-Form, sehr ähnlich von der damals üblichen Opernform. Das
kleine Streichorchester mit Theorbe und Orgelpositiv wird in manchen Arien
von einer Blockflöte oder einer Oboe solistisch begleitet. Eine Trompete
dient zur Belebung der Hiobs-Botschaften und der martialischen unfreundlichen
Ausbrüche des Onias, der sehr bösartig den politischen Agitator Jesus
verteufelt. Was natürlich ebenso scharfe Antworten von Johannes und Nicodemus
bewirkt, die die Sturheit der gläubigen Juden und die Nichterkennung des
Messias anprangern. Ein politisch sehr gewagtes Thema, sehr en vogue während
der Gegenreformation.
Die
vier Sänger waren allerdings etwas benachteiligt, da sie in der knapp
fünfzehn Quadratmeter großen Spielfläche des Altarbilds nur wenig agieren
konnten. Natürlich fand auch eine leichte akustische Dämpfung statt. Die
dominierende Leistung war die Maria von Sara MINGARDO, die dem Schmerz
der leidenden Mutter Ausdruck verlieh. Ihr prachtvoll samtener, wunderbar
geführter Alt vermittelte sehr intensiv das Leid der Mutter in diesem
langen Lamento. Anna SIMBOLI sang San Giovanni mit klarem, etwas spitzem
Sopran, eher eine Soubretten-Stimme. Romina BASSO gab dem Nicodemo intensiven
Ausdruck mit ihrem schönen Mezzosopran um die schlechten Nachrichten mit
Bedauern der Jungfrau Maria zu überbringen. Der Hohepriester Onias ist
hier der "Böse", dem Daniele ZANFARINO seinen wohlklingenden Tenor lieh.
Er stellte die religiöse Sturheit sehr passend dar, in dem er sich mit
gekreuzten Armen vor Maria hinstellte und ihr Vorwürfe machte.
Das
Kammerorchester Concerto Italiano und Dirigent Rinaldo Allessandrini sind
hörbar mit dieser Musik sehr vertraut. Das italienische Ensemble musizierte
mit großer Begeisterung und Einsatz. Der stürmische Beifall am Schluß
galt nicht nur den Sängern und Schauspielern, sondern auch sehr dem Orchester.
Es war sicher die ungewöhnlichste Produktion, die ich je gesehen habe,
die den heute unverdaulichen Text in origineller Weise einem modernen
Publikum schmackhaft machte und ermöglichte, diese wunderschöne Musik
kennen zu lernen. Aber warum spielt man keine Opern von Alessandro Scarlatti?
wig.
P.S.:
Oratorien von sehr aktiven Opernkomponisten zu inszenieren, scheint eine
neue Masche zu sein. Das kann aber auch schief gehen. Ein Schulbeispiel
wie man ein Oratorium nicht inszenieren soll, war die Produktion von Christoph
NEL in der Szenographie von Roland AESCHLIMANN von Händels prachtvollem
Oratorium "Belshazzar" unter der höchst kompetenten musikalischen Leitung
von René JACOBS. Die aus der Staatsoper unter den Linden in Berlin importierte
Produktion wurde beim Festival in Aix-en-Provence gezeigt und am 23. Juli
von ARTE direkt übertragen. Das Dilettantischste war wohl die Verwandlung
der trauernden Juden im babylonischen Exil mit Kippa auf dem Haupt, die
auf offener Szene sich sekundenschnell umdrehten und mit Weinranken bekränzten,
um an Belshazzars Saufgelage teilzunehmen! Lächerlich! Händel hat ja auch
mehrere Dutzend, nie gespielte, Opern geschrieben, die, wenn überhaupt,
konzertant (als Oratorien!) gespielt werden!
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