So
hätten sich die Ritter der Tafelrunde gefühlt, wenn sie kurz nach Beginn
ihrer Suche und ein paar falschen Orten direkt den Heiligen Gral gefunden
hätten - sicher, er hat ein paar Kratzer und ein größerer Edelstein fehlt,
aber es ist möglicherweise das Ähnlichste zum Heiligen Gral, was zu finden
ist.
In
anderen Worten - "Aus einem Totenhaus" in Berlin war das beste "Totenhaus",
was ich bisher gesehen habe, und ich habe in den meisten Punkten Schwierigkeiten,
mir vorzustellen, wie man es noch verbessern könnte.
Zuerst
sollte vielleicht erwähnt werden, daß es sich nicht um eine Neuinszenierung
handelt. Diese Version des "Totenhauses" von Patrice CHÉREAU wurde 2007
bei den Wiener Festwochen das erste Mal in dieser Form und mit (größtenteils)
der selben Besetzung aufgeführt, besuchte dann mehrere Festivals, ist
als Einzige auf DVD erhältlich und landete schließlich für viel zu wenige
Vorstellungen in der Berliner Staatsoper. Als eingefleischter "Totenhaus"-Fan
besitze ich diese DVD, und es spricht sehr für Musik und Inszenierung,
daß es ihnen gelang, mich, obwohl sie mir größtenteils bekannt waren,
so sehr vom Hocker zu reißen.
Das
beginnt beim Bühnenbild (Richard PEDUZZI), das eigentlich nur aus einigen
riesigen, grauen Mauern besteht, deren oberes Ende nicht zu sehen ist.
Wenn diese mal den Blick auf den hinteren Teil der Bühne freigeben, sorgt
man mit Nebel dafür, daß man immer noch nicht weiter gucken kann. Das
Gefühl von Eingeschlossenheit und Aussichtslosigkeit (auch im wörtlichen
Sinne) ist überwältigend.
Die
Kostüme (Caroline de VIVAISE) sind allgemein genug, daß dieser Inszenierung
tatsächlich gelingt, was so viele andere versucht haben - glaubhaft zu
vermitteln, daß sie überall und zu jeder Zeit spielen könnte. Die Sträflinge
tragen, was von ihrer Zivilkleidung noch übrig ist, die Wachen grüne Soldatenuniformen.
Einziger Punkt, der mir nicht so sehr zusagt: Cerevin, Cekunov und Šiškov
treten als eine Art Kapo auf; sowohl vom Kostüm als auch vom Verhalten
her. Auch werden die Zeilen, die eigentlich von der Wache gesungen werden,
auf Cerevin und Šiškov verteilt, was ich einfach als unpassend empfand.
Der
Adler darf in dieser Inszenierung ein Adler bleiben, und es hat mich ja
schon fast erschreckt, als ich gemerkt habe, dass dies meine erste Inszenierung
ist, in der das so war. Das Ende wird in so weit abgewandelt, als daß
der Adler nur scheinbar freigelassen wird - hinter dem Rücken der ihm
nachschauenden Sträflinge verstecken der große und der alte Sträfling
den Vogel wieder. Nicht vorbildskonform, aber auch nicht schlecht.
Ein
interessanter Einfall war außerdem, die Übertitel mitten ins Bühnenbild
zu projizieren, möglichst dorthin, wo die Handlung gerade spielt. Das
gelingt zwar nicht immer, gerade in Chorszenen, aber der Gedanke gefällt
mir. Stellenweise ist es leider auch störend oder sogar ablenkend, aber
ich sehe ein, daß ich zu den wenigen textkundigen Zuschauern gehören dürfte,
und es ist allemal besser, als wenn sie das Stück in einer Übersetzung
aufgeführt hätten.
Dennoch
nehmen einem die Übertitel ein wenig die Möglichkeit, auch auf den hinteren
Teil der Bühne zu achten - und dort passiert immer etwas. Eine ganze Reihe
von Hauptdarstellern ist eigentlich ständig irgendwie präsent und fällt
im Hintergrund auf. Doch auch im CHOR profiliert sich eine ganze Reihe
von Sängern durch ihr Schauspiel. Leider hat mir auch längeres Google-Stalking
nicht verraten, auf welche Namen die Sänger hören, die mir am stärksten
auffielen. Deswegen geht hier ein Lob an die Müllerin, den jungen Mann
mit dem kurzen, blonden Pferdeschwanz, sowie denjenigen, den er am Anfang
des dritten Akts ins Krankenhaus trug.
Weiter
geht es mit der STAATSKAPELLE BERLIN unter Sir Simon RATTLE, die mir mal
wieder gezeigt hat, wie ein gutes Orchester zu klingen hat. Kaum zwanzig
Sekunden nach Beginn der Ouvertüre hatten mich die Musiker in den Bann
gezogen. Und das ließ nie nach. Das Orchester, bei Janácek schon immer
mehr als reine Untermalung, wird hier schon fast zur handelnden Person,
so ausdrucksvoll ist der Klang. Rattle setzt viele eigene Akzente und
das sehr wirkungsvoll. Ich kann mit Bestimmtheit sagen selbst auf Aufnahmen
noch niemals eine so großartige "Totenhaus"-Ouvertüre gehört zu haben.
Meine
Begeisterung für den Staatsopernchor unter Eberhard FRIEDRICH wurde dadurch
getrübt, daß er öfter per Lautsprecher in den Zuschauerraum übertragen
wurde. Möglicherweise liegt das an den Möglichkeiten des Schillertheaters,
aber es war auf jeden Fall störend, da die Lautsprecher zu laut waren
und einige Male übersteuerten. Dafür war das einzige ausschließliche Chorstück
("Neuvidi oko jíž"), das zudem auch auf der Bühne gesungen werden durfte,
einfach hinreißend.
Um
meine wenige Kritik an den Sängern möglichst schnell hinter mich zu bringen,
beginne ich mit dem Einzigen, der mir wirklich nicht zugesagt hat: John
Mark AINSLEY als Skuratov. Ständig geht er im Orchester unter, und einige
seiner Töne klangen einfach nur gequetscht, andere flach. Ich hoffe, es
sagt nichts über Ainsley selbst aus, daß er dafür einen ausgesprochen
überzeugenden Geisteskranken auf die Bühne brachte. Auf schauspielerischer
Seite war ich begeistert.
Auch
Jirí SULŽENKO als der Platzkommandant kann nicht vollständig überzeugen.
Seine Leistung schwankt von einem Moment zum nächsten. Während er eine
Zeile mit so triefender Gemeinheit singt, daß einem selbst als Zuschauer
angst und bange wird, kann bereits die nächste schwächlich klingen. Da
sein Schauspiel allerdings durchgängig ausgezeichnet ist, nüchtern wie
betrunken, ist der Gesamteindruck doch positiv.
Stephan
RÜGAMERs Cerevin gehört zu den etwas unauffälligeren Erscheinungen des
Abends. Er war auf keinen Fall schlecht, aber neben einem ausgezeichneten
Šiškov einfach nicht ausreichend bemerkenswert.
An
der Besetzung der kleinen Rollen ist nichts auszusetzen: Arttu KATAJA
(der Pope), Alfredo DAZA (der Koch), Florian HOFFMANN (der betrunkene
Sträfling) und Olivier DUMAIT (der junge Sträfling und die Stimme hinter
der Bühne) machen ihre Sache allesamt ausgezeichnet. Dumait konnte vor
allem am Anfang des zweiten Akts als eben jene Stimme glänzen. Nur Susannah
HABERFELD als Dirne gefiel mir weniger gut; ich empfinde ihre Stimme nicht
als sonderlich angenehm.
Ales
JENIS und Marian PAVLOVIC als Don Juan und Kedril machen sich in den beiden
Stücken wirklich gut, aber im Gegensatz zu vielen anderen Sängern sind
sie außerhalb ihres großen Auftritts auf der Bühne nicht wiederzufinden.
Heinz
ZEDNIK paßt die Rolle des alten Sträflings wie angegossen. Leider hört
man ihm das auch an, denn seine Stimme zeigt deutliche Alterserscheinungen
und erinnert an staubige Museumsräume. Trotzdem hat seine Stimme noch
eine erstaunliche Tragweite.
Ján
GALLA bringt einen imposanten Cekunov auf die Bühne. Auch er ist immer
präsent, es hat mir, z.B. ausgesprochen gut gefallen, daß er und Luka
sich bereits im zweiten Akt ständig streiten. Außerdem verfügt er über
einen beeindruckend sonoren Baß.
Eric
STOKLOSSA paßt stimmlich wie äußerlich einfach nur ausgezeichnet in die
Rolle des Aljeja. Es braucht hier keine Sopranstimme, damit Aljeja wie
das einzige Kind unter den Sträflingen wirkt. Auch seine Bühnenpräsenz
ist ausgezeichnet, und das obwohl oder vielleicht gerade weil Aljeja sich
eigentlich Mühe gibt nicht aufzufallen.
Peter
HOARE spielt Šapkin eigentlich genau so, wie ich ihn mir immer vorgestellt
habe; mit einem bißchen Witz, aber nicht zu clownesk; er nimmt der Rolle
nicht ihre tragische Seite. Auch stimmlich weiß er zu gefallen; die für
einen Tenor sehr tiefen Töne, in denen er die Sprechtexte des Polizisten
wiedergibt, klingen nicht mal ansatzweise gebrummt.
Vladimír
CHMELO singt den kleinen Sträfling mit fast ständiger Aggressivität auf
sehr passende Art. Seine rauhe Stimme paßt ebenfalls sehr gut zur Rolle.
Daher haben mich seine wenigen Zeilen in der Adler-Szene des ersten Akts
umso mehr beeindruckt, die auf einmal sanft klangen und mich spontan an
Schokoladensoße denken ließen.
Whillard
WHITE (Gorjancikov) nennt einen beeindruckenden, fast schon erschlagenden
Bariton sein eigen. Ohne Schwierigkeiten übertönt er im letzten Akt den
immerhin per Lautsprecher übertragenen Chor. Man könnte danach meinen,
daß ihm die lyrischen Stellen weniger gut gelingen würden, aber Fehlanzeige.
Seine Gespräche mit Aljeja klingen sanft und einfühlsam.
Enttäuschend
ist, daß Peter STRAKA dieses Mal "nur" den großen Sträfling singen durfte
- sein Skuratov in Zürich war immerhin ausgezeichnet. Er hat eine unglaublich
kräftige Stimme, die selbst bei hohen Tönen noch eine beeindruckende Fülle
besitzt. Er singt mit genau der Energie und Kraft, die ich bei Ainsley
vermisse, und so bleibt mir diese Besetzungsentscheidung völlig unverständlich.
Roman
TREKEL singt einen ausgesprochen verzweifelten Šiškov und das sehr überzeugend.
Die Texte wurden hier etwas uminterpretiert; Šiškov will Cerevin, der
sich erst nach und nach dafür interessiert, unbedingt seine Geschichte
erzählen; er muß sich aussprechen, muß diese Last endlich loswerden. Und
genauso erzählt er, mit sicht- und hörbarer Verzweiflung, die sich im
Wiedererkennen seines Rivalen eindrucksvoll entlädt. Stimmlich hat er
einen beeindruckenden Umfang und variiert mühelos zwischen dramatischen
und lyrischen Zeilen.
Und
schließlich das Beste zum Schluss: Štefan MARGITA als Luka Kuzmic/Filka
Morozov. Ich fand ihn bereits auf der DVD klasse, aber live ist er noch
so viele Male besser. Margita fällt nicht einen Moment aus der Rolle;
selbst wenn er im Hintergrund sitzt und eigentlich gerade nichts zu sagen
hat, fällt er auf. Sein Gesang ist so ausdrucksvoll, daß man zusammen
mit seinem Spiel eigentlich gar keine Texte mehr bräuchte. Mir fehlen
die Worte, um den Gemütszustand zu beschreiben, in den mich seine "Arie"
versetzte; am Ende saß ich schluchzend da aus lauter Emotionsüberschuß.
Der geneigte Leser möge sich einfach vorstellen, wie er/sie sich fühlen
würde nach dem besten anzunehmenden Vortrags des eigenen Lieblingsstücks.
Was
kann ich abschließend sagen? Ich könnte ewig weiterschwärmen, wenn mir
nicht langsam die Synonyme für "großartig" ausgehen würden! NG
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