(am
19. Mai 2008 im Staatstheater am Gärtnerplatz von Irene Stenzel geführt)
Herr
Stahl, Sie sind Chefdirigent am Staatstheater am Gärtnerplatz, feierten
gerade Ihren 500. Dirigierauftrag mit einem großen Symphoniekonzert.
Zugleich sind Sie Chefdirigent beim Charleston Symphony Orchestra. Wie
groß ist für Sie die künstlerische Herausforderung, beide Chefpositionen
zu bekleiden?
Ich
liebe beide Positionen sehr. Die eine ist mehr oder weniger die musikalische
Nahrung für die andere. In Amerika spielen wir fast nur sinfonische
Konzerte, hier am Staatstheater am Gärtnerplatz fast nur Oper und Operette.
Ich brauche beides wie die Luft zum Atmen. Den echten europäischen Klang
von der echten europäischen Musik bringe ich zu meinem Orchester in
Amerika. Da ich beim Dirigieren einer Oper mit den Sängern und dem Orchester
gemeinsam atme, ist eine intime Zusammenarbeit wie die bei einem Kammermusikkonzert
möglich. Georg Solti, den ich durch einen gemeinsamen Manager kennengelernt
habe, sagte bei einer unserer Begegnungen, daß ein Dirigent ein Opernhaus
braucht, damit er sich künstlerisch entwickeln kann. Ich bin sehr dankbar,
daß ich diese Chance bekam und sich mein Gespür für natürliche Begleitung
dadurch entfalten konnte.
Wie
gestaltet sich während einer Saison Ihre künstlerische Tätigkeit mit
beiden Orchestern, da Sie auf beiden Seiten des Atlantiks ja quasi auf
zwei Hochzeiten tanzen?
Es
ist nicht einfach, aber ich bin sehr daran gewöhnt, diesen beiden Positionen
gerecht werden zu müssen. Der ganze Spielplan wird ein Jahr im Voraus
disponiert, meine Orchester und ich, wir wissen vorher genau und früh
genug, wann wir welche Vorstellung oder Probe haben. Ich kenne beide
Orchester sehr gut, kenne jeden Musiker und bin auf die lange Zusammenarbeit
mit beiden Orchestern stolz. Ganz oft lande ich in München und fahre
direkt zur Probe. Der Zeitunterschied stellt für mich kein Problem dar.
Sie
sind als Sohn deutscher Einwanderer in New York geboren und haben sich
wohl schon sehr früh für ein Musikstudium entschlossen. Wie und wer
hat Ihre Begabung entdeckt, und wo haben Sie dann Ihr Studium aufgenommen?
Ich
war 15 Jahre alt und mit meinem Vater in einer "Meistersinger"-Vorstellung
in der MET. Vorher sagte er: "Junge, du kannst nicht fünf Stunden in
die Oper gehen, ohne dich vorzubereiten, hier ist der Klavierauszug
und eine Aufnahme, beschäftige dich damit." Diese "Meistersinger" unter
Josef Rosenstock waren sozusagen mein Schicksal. Von da an habe ich
bei Josef Rosenstock das Studium des Dirigierens aufgenommen, da er
mich an jenem Abend durch sein Können so überzeugt hatte, daß mein Entschluß
von da ab feststand: Ich wollte Dirigent werden! Klassische Musik wurde
in meiner Familie immer gepflegt, mein Großvater spielte bis zur Emigration
1938 als Hobbymusiker in einem Kammermusikensemble in Essen. Ich denke,
daß ich gerade von ihm die musikalische Ader geerbt habe. Außerdem habe
ich während meiner Schulzeit immer im Chor gesungen, als Tenor, nach
Einsetzen des Stimmbruchs dann als Baß.
Mit
23 Jahren haben Sie bereits an der Carnegie Hall debütiert und wurden
da schon von Seiji Ozawa zu einem Meisterkurs beim Tanglewood Festival
eingeladen. Für uns Europäer wäre es wichtig zu erfahren, ob die Teilnahme
an diesem Festival in Amerika entscheidend ist für einen Karriereweg
amerikanischer Dirigenten?
Ja,
das ist und war ganz wichtig, zumindest zu meiner Zeit. Damals waren
ganz berühmte Musiker dabei, wie Bernstein, Copland, Ozawa, Rostropovitch,
es ist ein sehr wichtiges und einflussreiches Festival, bei deren Teilnahme
amerikanische Musiker und Dirigenten ihren Karriereweg festigen konnten
und können.
Dort
haben Sie auch einen wichtigen Mentor gefunden, nämlich Leonard Bernstein,
der Sie gleich als Assistent zum New York Philharmonic Orchestra holte.
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Leonard Bernstein, und wie
haben Sie ihn auch als Privatmensch kennenlernen können?
Er
war sehr inspirierend und herausfordernd. Wenn man Bernstein um einen
musikalischen Rat gefragt hatte, war er nicht nur Ratgeber, sondern
zugleich auch Lehrer. Er hatte die Vorstellung, mit seiner Musik Weltfrieden
zu verbreiten und ebenso friedvoll zu verändern. Ich konnte ihn immer
erreichen, unser Kontakt war stetig und ist nie abgebrochen. Sieben
Monate, bevor er starb, ist mein Sohn geboren. Er hat ihm ein Telegramm
zukommen lassen mit den Worten: "Welcome to this weird and wonderful
world". Wie es in "Candide" heißt: "Life is neither good or bad. Life
is life, and all we know." Damit sei alles zu dieser Frage gesagt.
Später
waren Sie ja auch in Cincinnati Assistent von Thomas Schippers, und
da holte Sie wiederum Leonard Bernstein als Dirigent für die Broadway-Produktion
der "West Side Story" mit anschließender Europa-Tournee. War diese weitere
Zusammenarbeit mit Leonard Bernstein ausschlaggebend für Ihren weiteren
Karriereweg, auch in Europa?
Es
war für mich sehr wichtig, mit dieser Referenz meinen Karriereweg weiter
zu ebnen. Durch meine wiederholte Zusammenarbeit mit ihm wurde man auch
in Europa auf mich aufmerksam.
Ist
seit dieser Zusammenarbeit mit L. Bernstein eine besondere Zuneigung
zum Musical entstanden, nachdem Sie ja mit großem Erfolg am Staatstheater
am Gärtnerplatz Candide von Bernstein dirigiert haben?
Natürlich
ist das Musical eine schöne Musikrichtung, aber eigentlich bin ich mehr
mit Richard Wagner verbunden. Gerne höre ich mir Musicals an, aber das
Bedürfnis, eines selbst zu dirigieren, ist nicht sehr ausgeprägt. Allerdings
fühle ich mich zu der Musik, die Bernstein komponiert hat, sehr hingezogen.
Sie
haben mittlerweile mit über 100 Orchestern auf vier Kontinenten gearbeitet.
Fehlen Ihnen jetzt noch einige Orchester, mit denen Sie noch arbeiten
möchten? Gibt es Unterschiede in der Zusammenarbeit mit den jeweiligen
Orchestern der Kontinente?
In
Österreich oder in der Schweiz habe ich leider noch nicht dirigiert,
auch in England noch nicht. Ich liebe die Arbeit mit den verschiedenen
Kulturen an verschiedenen Orten, überall sind es andere Klangfarben,
andere Akzente, andere Inspirationen. Ein großartiges Flair. Jedes Land,
jedes Stück bringt seine eigene Nationalität mit. Es gibt Unterschiede
mit den jeweiligen Orchestern, da jedes Orchester eine bestimmte Klangfarbe
entwickelt, und man als Dirigent diese Besonderheit während der Probenzeit
herausarbeiten sollte.
Ihr
Europa-Debüt haben Sie in 1982 in Palermo aber mit einer Oper, nämlich
Bellinis "I Capuleti e i Montecchi", gegeben, sind dann vorerst in Italien
geblieben und haben sich da ausschließlich der Oper und dem Konzert
gewidmet und mit namhaften Solisten wie u.a. Itzhak Perlman zusammengearbeitet.
1984 wurden Sie zunächst Chefdirigent des Charleston Symphony Orchestra,
das sich unter Ihrer Leitung einen Ruf als eines der vielseitigsten
und ambitioniertesten Orchester in den USA erarbeitet und viele nationale
Auszeichnungen erhalten hat. Wie kam es dazu, daß Sie die Leitung dieses
Orchesters übernommen haben?
1981
war ich bei Menotti zum Spoleto-Festival USA (Schwesterfestival von
Italien) eingeladen, das war mein erster Besuch in Charleston. Ein paar
Monate später hörte ich, daß in Charleston die Stelle eines Chefdirigenten
frei wurde. Ich zeigte mein Können zunächst als Gastdirigent, und erhielt
anschließend dann die Position des Chefdirigenten. Heute, 25 Jahre später,
bin ich immer noch dort. Ich fühle mich sehr geehrt, daß ich in beiden
schönen Städten, Charleston wie München, sowohl Oper als auch Sinfonien
dirigieren kann.
Seit
der Spielzeit 1999/2000 sind Sie Chefdirgent des Staatstheaters am Gärtnerplatz
und haben dort, sozusagen von Oper bis Musical, sehr viele Neuinszenierungen
und Erstaufführungen dirigiert wie u. a. Beethovens "Leonore". Sie wurden
ja sogar während der ersten Spielzeit von der einschlägigen Presse als
"Mann des Jahres" bezeichnet. Hat der Chefdirigent Einfluß auf die Programmwahl
des Intendanten, auch hinsichtlich des Engagements von weiteren Dirigenten
und Sängern? Wie gestaltet sich da eine Zusammenarbeit?
Wir,
das Leitungsteam des Hauses, setzen uns zusammen und beraten gemeinsam
den Spielplan. Verschiedene Vorschläge und Ideen bezüglich der Stückauswahl
kommen zusammen, man muß austüfteln, was und wie, welche Rollen mit
welchen Sängern am besten passen. Das letzte Wort der Entscheidung hat
dann der Intendant. Dabei müssen wir immer versuchen, nicht nur das
künstlerische Niveau aufrechtzuerhalten, sondern auch die Programmvielfalt.
Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz wurde im übrigen nach
A im Herbst 2003 eingestuft. Bei Sänger- oder Musiker-Engagements habe
ich selbstverständlich ein Mitentscheidungsrecht. Meine dirigierenden
Kollegen kann ich mir aussuchen, auch wenn ich nicht in München bin.
Jeden Tag bin ich mit dem Theater in Kontakt und so bestens über die
Vorgänge dort informiert. Bestimmte Stücke gehören auch zu diesem Haus,
z. B. "Lustige Witwe", "Fledermaus", "Hänsel und Gretel" und aber auch
weniger bekannte Stücke wie "Zar Saltan", das wir nächste Spielzeit
aufführen werden. Ebenso ist es wichtig, daß wir sinfonische Werke spielen,
die Orchester müssen flexibel sein und sich nicht nur auf eine bestimmte
Musikrichtung konzentrieren. Am Freitag, 23.Mai, hatte ich meinen 500.
Dirigierauftrag im Staatstheater am Gärtnerplatz, bei dem ich ein Konzert
mit Werken von Weill, Britten, Stravinsky und Schostakowitsch dirigierte.
Wie
sieht die Zukunft bei beiden Chefpositionen aus?
In
Charleston werde ich unbefristet bleiben und irgendwann zum Ehrendirigenten
berufen. Hier in München bin ich glücklich, mag die Arbeit mit meinen
Musikern und meinen Sängern, und ich liebe das Münchener Publikum, das
mir auch viel Sympathie entgegenbringt. Ich freue mich über die Arbeit
auf beiden Seiten des Kontinents, sozusagen auf die musikalische Verbindung
beider Kontinente. Eine starke Bindung besteht schon deshalb zu München,
da meine Familie, gerade mein Großvater mütterlicherseits, Opernbesuche
beider Münchner Häuser sehr liebte, und die Familie oft in München weilte.
Wie sieht aus Ihrer Sicht der Dirigentennachwuchs heute aus, und
was würden Sie einem Studenten raten, der den Beruf eines Dirigenten
wählen möchte?
Nummer
Eins: Großes Herzblut muß vorhanden sein. Es ist schwierig zu sagen…
man kann es nicht verallgemeinern, es kommt sehr stark auf die Persönlichkeit
des Menschen an. Manch guter Musiker ist noch lange nicht in der Lage,
ein Orchester zu führen. Es ist wirklich sehr subjektiv. Furtwängler
z.B. hatte keine klare Taktstocktechnik, aber war einer der größten
unter uns. Mit Sicherheit gibt es in der heranwachsenden Dirigentenriege
großes Potential, das es zu fördern gilt. Jeder Jung-Dirigent sollte
ein Vorbild haben.