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INTERVIEW MIT DAVID STAHL

(am 19. Mai 2008 im Staatstheater am Gärtnerplatz von Irene Stenzel geführt)

Herr Stahl, Sie sind Chefdirigent am Staatstheater am Gärtnerplatz, feierten gerade Ihren 500. Dirigierauftrag mit einem großen Symphoniekonzert. Zugleich sind Sie Chefdirigent beim Charleston Symphony Orchestra. Wie groß ist für Sie die künstlerische Herausforderung, beide Chefpositionen zu bekleiden?

Ich liebe beide Positionen sehr. Die eine ist mehr oder weniger die musikalische Nahrung für die andere. In Amerika spielen wir fast nur sinfonische Konzerte, hier am Staatstheater am Gärtnerplatz fast nur Oper und Operette. Ich brauche beides wie die Luft zum Atmen. Den echten europäischen Klang von der echten europäischen Musik bringe ich zu meinem Orchester in Amerika. Da ich beim Dirigieren einer Oper mit den Sängern und dem Orchester gemeinsam atme, ist eine intime Zusammenarbeit wie die bei einem Kammermusikkonzert möglich. Georg Solti, den ich durch einen gemeinsamen Manager kennengelernt habe, sagte bei einer unserer Begegnungen, daß ein Dirigent ein Opernhaus braucht, damit er sich künstlerisch entwickeln kann. Ich bin sehr dankbar, daß ich diese Chance bekam und sich mein Gespür für natürliche Begleitung dadurch entfalten konnte.

Wie gestaltet sich während einer Saison Ihre künstlerische Tätigkeit mit beiden Orchestern, da Sie auf beiden Seiten des Atlantiks ja quasi auf zwei Hochzeiten tanzen?

Es ist nicht einfach, aber ich bin sehr daran gewöhnt, diesen beiden Positionen gerecht werden zu müssen. Der ganze Spielplan wird ein Jahr im Voraus disponiert, meine Orchester und ich, wir wissen vorher genau und früh genug, wann wir welche Vorstellung oder Probe haben. Ich kenne beide Orchester sehr gut, kenne jeden Musiker und bin auf die lange Zusammenarbeit mit beiden Orchestern stolz. Ganz oft lande ich in München und fahre direkt zur Probe. Der Zeitunterschied stellt für mich kein Problem dar.

Sie sind als Sohn deutscher Einwanderer in New York geboren und haben sich wohl schon sehr früh für ein Musikstudium entschlossen. Wie und wer hat Ihre Begabung entdeckt, und wo haben Sie dann Ihr Studium aufgenommen?

Ich war 15 Jahre alt und mit meinem Vater in einer "Meistersinger"-Vorstellung in der MET. Vorher sagte er: "Junge, du kannst nicht fünf Stunden in die Oper gehen, ohne dich vorzubereiten, hier ist der Klavierauszug und eine Aufnahme, beschäftige dich damit." Diese "Meistersinger" unter Josef Rosenstock waren sozusagen mein Schicksal. Von da an habe ich bei Josef Rosenstock das Studium des Dirigierens aufgenommen, da er mich an jenem Abend durch sein Können so überzeugt hatte, daß mein Entschluß von da ab feststand: Ich wollte Dirigent werden! Klassische Musik wurde in meiner Familie immer gepflegt, mein Großvater spielte bis zur Emigration 1938 als Hobbymusiker in einem Kammermusikensemble in Essen. Ich denke, daß ich gerade von ihm die musikalische Ader geerbt habe. Außerdem habe ich während meiner Schulzeit immer im Chor gesungen, als Tenor, nach Einsetzen des Stimmbruchs dann als Baß.

Mit 23 Jahren haben Sie bereits an der Carnegie Hall debütiert und wurden da schon von Seiji Ozawa zu einem Meisterkurs beim Tanglewood Festival eingeladen. Für uns Europäer wäre es wichtig zu erfahren, ob die Teilnahme an diesem Festival in Amerika entscheidend ist für einen Karriereweg amerikanischer Dirigenten?

Ja, das ist und war ganz wichtig, zumindest zu meiner Zeit. Damals waren ganz berühmte Musiker dabei, wie Bernstein, Copland, Ozawa, Rostropovitch, es ist ein sehr wichtiges und einflussreiches Festival, bei deren Teilnahme amerikanische Musiker und Dirigenten ihren Karriereweg festigen konnten und können.

Dort haben Sie auch einen wichtigen Mentor gefunden, nämlich Leonard Bernstein, der Sie gleich als Assistent zum New York Philharmonic Orchestra holte. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Leonard Bernstein, und wie haben Sie ihn auch als Privatmensch kennenlernen können?

Er war sehr inspirierend und herausfordernd. Wenn man Bernstein um einen musikalischen Rat gefragt hatte, war er nicht nur Ratgeber, sondern zugleich auch Lehrer. Er hatte die Vorstellung, mit seiner Musik Weltfrieden zu verbreiten und ebenso friedvoll zu verändern. Ich konnte ihn immer erreichen, unser Kontakt war stetig und ist nie abgebrochen. Sieben Monate, bevor er starb, ist mein Sohn geboren. Er hat ihm ein Telegramm zukommen lassen mit den Worten: "Welcome to this weird and wonderful world". Wie es in "Candide" heißt: "Life is neither good or bad. Life is life, and all we know." Damit sei alles zu dieser Frage gesagt.

Später waren Sie ja auch in Cincinnati Assistent von Thomas Schippers, und da holte Sie wiederum Leonard Bernstein als Dirigent für die Broadway-Produktion der "West Side Story" mit anschließender Europa-Tournee. War diese weitere Zusammenarbeit mit Leonard Bernstein ausschlaggebend für Ihren weiteren Karriereweg, auch in Europa?

Es war für mich sehr wichtig, mit dieser Referenz meinen Karriereweg weiter zu ebnen. Durch meine wiederholte Zusammenarbeit mit ihm wurde man auch in Europa auf mich aufmerksam.

Ist seit dieser Zusammenarbeit mit L. Bernstein eine besondere Zuneigung zum Musical entstanden, nachdem Sie ja mit großem Erfolg am Staatstheater am Gärtnerplatz Candide von Bernstein dirigiert haben?

Natürlich ist das Musical eine schöne Musikrichtung, aber eigentlich bin ich mehr mit Richard Wagner verbunden. Gerne höre ich mir Musicals an, aber das Bedürfnis, eines selbst zu dirigieren, ist nicht sehr ausgeprägt. Allerdings fühle ich mich zu der Musik, die Bernstein komponiert hat, sehr hingezogen.

Sie haben mittlerweile mit über 100 Orchestern auf vier Kontinenten gearbeitet. Fehlen Ihnen jetzt noch einige Orchester, mit denen Sie noch arbeiten möchten? Gibt es Unterschiede in der Zusammenarbeit mit den jeweiligen Orchestern der Kontinente?

In Österreich oder in der Schweiz habe ich leider noch nicht dirigiert, auch in England noch nicht. Ich liebe die Arbeit mit den verschiedenen Kulturen an verschiedenen Orten, überall sind es andere Klangfarben, andere Akzente, andere Inspirationen. Ein großartiges Flair. Jedes Land, jedes Stück bringt seine eigene Nationalität mit. Es gibt Unterschiede mit den jeweiligen Orchestern, da jedes Orchester eine bestimmte Klangfarbe entwickelt, und man als Dirigent diese Besonderheit während der Probenzeit herausarbeiten sollte.

Ihr Europa-Debüt haben Sie in 1982 in Palermo aber mit einer Oper, nämlich Bellinis "I Capuleti e i Montecchi", gegeben, sind dann vorerst in Italien geblieben und haben sich da ausschließlich der Oper und dem Konzert gewidmet und mit namhaften Solisten wie u.a. Itzhak Perlman zusammengearbeitet. 1984 wurden Sie zunächst Chefdirigent des Charleston Symphony Orchestra, das sich unter Ihrer Leitung einen Ruf als eines der vielseitigsten und ambitioniertesten Orchester in den USA erarbeitet und viele nationale Auszeichnungen erhalten hat. Wie kam es dazu, daß Sie die Leitung dieses Orchesters übernommen haben?

1981 war ich bei Menotti zum Spoleto-Festival USA (Schwesterfestival von Italien) eingeladen, das war mein erster Besuch in Charleston. Ein paar Monate später hörte ich, daß in Charleston die Stelle eines Chefdirigenten frei wurde. Ich zeigte mein Können zunächst als Gastdirigent, und erhielt anschließend dann die Position des Chefdirigenten. Heute, 25 Jahre später, bin ich immer noch dort. Ich fühle mich sehr geehrt, daß ich in beiden schönen Städten, Charleston wie München, sowohl Oper als auch Sinfonien dirigieren kann.

Seit der Spielzeit 1999/2000 sind Sie Chefdirgent des Staatstheaters am Gärtnerplatz und haben dort, sozusagen von Oper bis Musical, sehr viele Neuinszenierungen und Erstaufführungen dirigiert wie u. a. Beethovens "Leonore". Sie wurden ja sogar während der ersten Spielzeit von der einschlägigen Presse als "Mann des Jahres" bezeichnet. Hat der Chefdirigent Einfluß auf die Programmwahl des Intendanten, auch hinsichtlich des Engagements von weiteren Dirigenten und Sängern? Wie gestaltet sich da eine Zusammenarbeit?

Wir, das Leitungsteam des Hauses, setzen uns zusammen und beraten gemeinsam den Spielplan. Verschiedene Vorschläge und Ideen bezüglich der Stückauswahl kommen zusammen, man muß austüfteln, was und wie, welche Rollen mit welchen Sängern am besten passen. Das letzte Wort der Entscheidung hat dann der Intendant. Dabei müssen wir immer versuchen, nicht nur das künstlerische Niveau aufrechtzuerhalten, sondern auch die Programmvielfalt. Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz wurde im übrigen nach A im Herbst 2003 eingestuft. Bei Sänger- oder Musiker-Engagements habe ich selbstverständlich ein Mitentscheidungsrecht. Meine dirigierenden Kollegen kann ich mir aussuchen, auch wenn ich nicht in München bin. Jeden Tag bin ich mit dem Theater in Kontakt und so bestens über die Vorgänge dort informiert. Bestimmte Stücke gehören auch zu diesem Haus, z. B. "Lustige Witwe", "Fledermaus", "Hänsel und Gretel" und aber auch weniger bekannte Stücke wie "Zar Saltan", das wir nächste Spielzeit aufführen werden. Ebenso ist es wichtig, daß wir sinfonische Werke spielen, die Orchester müssen flexibel sein und sich nicht nur auf eine bestimmte Musikrichtung konzentrieren. Am Freitag, 23.Mai, hatte ich meinen 500. Dirigierauftrag im Staatstheater am Gärtnerplatz, bei dem ich ein Konzert mit Werken von Weill, Britten, Stravinsky und Schostakowitsch dirigierte.

Wie sieht die Zukunft bei beiden Chefpositionen aus?

In Charleston werde ich unbefristet bleiben und irgendwann zum Ehrendirigenten berufen. Hier in München bin ich glücklich, mag die Arbeit mit meinen Musikern und meinen Sängern, und ich liebe das Münchener Publikum, das mir auch viel Sympathie entgegenbringt. Ich freue mich über die Arbeit auf beiden Seiten des Kontinents, sozusagen auf die musikalische Verbindung beider Kontinente. Eine starke Bindung besteht schon deshalb zu München, da meine Familie, gerade mein Großvater mütterlicherseits, Opernbesuche beider Münchner Häuser sehr liebte, und die Familie oft in München weilte.

Wie sieht aus Ihrer Sicht der Dirigentennachwuchs heute aus, und was würden Sie einem Studenten raten, der den Beruf eines Dirigenten wählen möchte?

Nummer Eins: Großes Herzblut muß vorhanden sein. Es ist schwierig zu sagen… man kann es nicht verallgemeinern, es kommt sehr stark auf die Persönlichkeit des Menschen an. Manch guter Musiker ist noch lange nicht in der Lage, ein Orchester zu führen. Es ist wirklich sehr subjektiv. Furtwängler z.B. hatte keine klare Taktstocktechnik, aber war einer der größten unter uns. Mit Sicherheit gibt es in der heranwachsenden Dirigentenriege großes Potential, das es zu fördern gilt. Jeder Jung-Dirigent sollte ein Vorbild haben.